Rolling Stones: Rock ’n’ Roll forever!

(c) Guy Webster
  • Drucken

Schwelgen in Erinnerungen an die wilden Sixties: Ein 500-seitiger
Prachtband beleuchtet die lange Karriere der Rolling Stones.

Die ersten offiziellen Bilder der Rolling Stones strahlen eine Unschuld aus, als wären sie Standfotos aus Retroserien à la „Mad Men“. Wie die jungen Briten da Anfang Mai 1963 an einer Ecke in Chelsea vor Telefonhäuschen lungern, wirken sie auf charmante Art verlegen. Später am selben Tag flüchten sie sich während ihrer ersten professionellen Fotosession nahe des Battersea Park in pseudowichtige Ersatzhandlungen. Mick Jagger gibt Charlie Watts Feuer, Brian Jones zeigt der Kamera die Glut seiner Zigarette. Braune Cordsakkos, graue Anzughosen, die Ohren noch gut zwischen den unfrisierten Haarbüscheln sichtbar, könnten sie genauso gut rüde Fabriksarbeiter in der Mittagspause sein. Waren sie aber nicht. Die jungen Männer standen am Beginn einer unnachahmlichen Weltkarriere. Ihr zerrupftes Äußeres wurde damals gerne als „Just-out-of-bed-and-fuck-you“-Look beschrieben. Aus heutiger Sicht sieht er nur niedlich aus. Doch die Band galt damals schon als ungestüm. Diese Fotosession war ein Vorbote der ersten nationalen Tournee der Rolling Stones. Die stand für Herbst an. In London hatten sich die Burschen schon vorher einen Namen gemacht. Am 12. Juli 1962 debütierten sie im Vorprogramm von Blueser Long John Baldry im legendären Marquee-Club in der Wardour Street in Soho. In einer Besetzung, die noch wenig mit dem legendären Line-up zu tun hatte, das ab 1963 wütete. Unter dem Signet The Rolling Stones firmierten damals Gitarrist Elmo Lewis, Bassist Dick Taylor, Schlagzeuger Mick Avery (der später mit den Kinks berühmt wurde), Pianist Ian Stewart und natürlich Mick Jagger und Keith Richards. Die heute dienstälteste Rock ’n’ Roll-Band der Welt enterte die Arena. Niemand hätte damals gedacht, dass man in einer Band alt werden könnte. Spätestens mit dreißig wollte man seine Schäfchen ins Trockene gebracht haben und den Rockzirkus, der als exklusive Bühne der Jugend galt, verlassen.

Kampf gegen das Alter. Streift man über die etwas mehr als 500 Seiten des bei Taschen erschienenen Bildbands, begreift man nicht nur die musikalische Entwicklung dieser außergewöhnlichen Band, sondern wird auch Zeuge ihres heroischen Kampfs gegen das Alter. Erst vergangenen Sommer rockte sie wacker das Wiener Ernst-Happel-Stadion, das mit Fans aus drei Generationen gefüllt war. Saxofonist Bobby Keys ist mittlerweile gestorben. Der Geist der ­Stones bleibt ungebrochen, solange der Kern aus Keith Richards, Mick Jagger und Charlie Watts dabei ist. Lang lebe der Rock ’n’ Roll!

Aber ist es wirklich nur Rock ’n’ Roll, der die Stones definiert? Sie begannen mit rüdem Rhythm & Blues, verstanden sich aber auch auf herzerweichende Balladen. Sie kreierten großartigen Riff-Rock, nahmen aber auch hervorragende Disco-, Funk-, Soul- und Bluessongs auf. Am Ende ist es dieses Patchwork aus Ästhetiken, das die Band jahrzehntelang überleben ließ. Zuweilen waren Songs einzig durch Micks schnoddrigen Gesang und Keiths unorthodoxe Gitarrenrupferei als Stones-Songs identifizierbar. Etwa die sarkastische Country-Schmonzette „Faraway Eyes“ oder im Falsettgesang gehaltene Discoknaller wie „Emotional Rescue“. Es gibt viele Wege durch den Song-Dschungel der Stones, man muss nicht den Trampelpfad nehmen.

(c) The Rolling Stones, Taschen-Verlag

Schlimme Buben im Schloss. Dem trug auch die Band Rechnung, als sie auf ihrer Welttournee in jeder Stadt ein anderes Album zelebrierte. Bei der Tournee-Eröffnung in Boston, bei der „Die Presse“ dabei war, gedachte man des heute als klassisch geltenden „Exile on Main Street“. Nicht weniger als vier hingebungsvoll dargebrachte Songs, darunter „Loving Cup“ und „Rocks Off“, erinnerten an jenen wilden März 1971, als die Stones in der südfranzösischen Villa Nellcote residierten. Im Keller dieses Herrschaftshauses aus dem 19. Jahrhundert, das die Nazis im Krieg okkupiert hatten, war das Aufnahmestudio untergebracht. „Überschätzt“ findet Jagger dieses Album heute. Anders Keith Richards, der damals trotz einer heftigen Heroinabhängigkeit Regie führte. Intuitiv. Im Gegensatz zum exaltierten Jagger ließ er den Kollegen einiges an Raum. Auf neue Art sprang da der Funke über. So passierte es, trotz manchmal schlampiger Ausführung, auch in Boston. „Die ­Stones machen Fehler, aber sie machen großartige Fehler!“, sagte Produktionsmanager Jake Berry damals bei der nachmittäglichen Journalistenvisite vorbeugend.

Erbsensuppe und Fensterkitt. Für ein überraschendes Moment sorgte damals eine untadelige Version des Philly-Soul-Klassikers „Love Train“, im Original von den  O’Jays. Der weltumarmende Refrain „People of the world join hands“ wurde angesichts des ersten Jahrestages des 11. September 2001 besonders innig aufgenommen. Blättert man durch den Taschen-Prachtband, ist darin auch das enge Verhältnis reflektiert, das die Stones zur afroamerikanischen Musikkultur haben. Auf einem Foto liegt Brian Jones vor dem Bluesgitarristen Taj Mahal, auf einem anderen sieht man Keyboarder und Sänger Billy Preston, der den Stones mit grandiosen Songs wie „Fingerprint File“ und „Hot Stuff“ den Funk beibrachte. Den Blues hingegen liebten die Stones schon in den frühen Sechzigern. Immerhin leitet sich ihr Bandname von einer Zeile aus „Mannish Boy“, einem Hit des großen Bluesmusikers Muddy Waters, ab, den sie ab Mitte der Siebzigerjahre sogar in ihr Liverepertoire aufnahmen. Selbstverständlich lockten auch die dunkelhäutigen Damen. Mick Jagger war mit Backgroundsängerin Marsha Hunt liiert, Keith Richards mit Model Jolie Jones, der ältesten Tochter von Quincy Jones.

Nach dem sprühenden Charme der ganz frühen Fotos, als die Stones noch Hungerhaken waren, die von Erbsensuppe und Fensterkitt lebten, kommen gleich die farbenprächtigen Selbstinszenierungen ihrer psychedelischen Phase aus dem Jahre 1967. Den kunstvoll erarbeiteten Mehrspuraufnahmen entsprechen die knalligen Outfits ideal. Visuell vielleicht am reizvollsten sind die Cross-Dressing-Experimente der Sechzigerjahre, an die die ­Stones nochmals 1978 mit der Cover-Art ihres grandiosen, zwischen Disco und Punk oszillierenden Albums „Some Girls“ anschließen. Ihren Ruf als harte Rocker kühn trans­zendierend, setzen Jagger und Co. feminine Akzente. Cross-Dressing und Schminke kannte man zwar schon von Marc Bolan und David Bowie, für den großen Durchbruch von Kajalstift und Seidentüchlein bei Burschen sorgten aber erst die Rolling Stones und ihr Welthit „Miss You“.

(c) The Rolling Stones, Taschen-Verlag

Tipp

Erste Risse. Trotz dieses Erfolgs zeigten sich damals erste Risse im Bandgefüge. Vor allem dem rebellischen Keith Richards war es ein Dorn im Auge, dass Jagger immer haltloser mit der Schickeria liebäugelte. Er schien vergessen zu haben, dass die Stones einst als Stimme des Anti-Establishments begonnen hatten. Als Jagger 2002 von Königin Elizabeth II. wegen seiner Verdienste um die Popmusik in den Adelsstand erhoben wurde, fand Richards nur hämische Worte: „Der Titel Sir ist eine völlig belanglose Ehre und zeigt nur, dass Mick unter die Arschkriecher gegangen ist.“ Wie die Geschichte zeigte, haben die einstigen bösen Buben des Rock doch immer wieder zusammengefunden, um das zu tun, was sie am besten können: ungestümen Gefühlen den perfekten musikalischen Drall verleihen.


The Rolling Stones. Hardcover in einer Schlagkassette, Sammlerstück, 518 Abbildungen, erschienen im Taschen-Verlag.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.