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Endlich wieder Freejazz ohne Angst vor Disco!

JAZZ FEST WIEN: KONZERT ´JAMIE CULLUM´
JAZZ FEST WIEN: KONZERT ´JAMIE CULLUM´(c) APA/GEORG HOCHMUTH (GEORG HOCHMUTH)
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Marc Ribot interpretierte beim Jazzfest Wien Klassiker wie „Love Epidemic“ erfrischend neu.

Dem strengen Jazzer gelten Disco und Soul als verwerflich angepasst. Genau deshalb ist freie Improvisation über Motive aus diesen Genres der vielleicht subversivste Schritt, den man als langjähriger Dekonstruktivist setzen kann. Marc Ribot, ein Promeneur solitaire, der die Werthierarchien der Jazzorthodoxie immer schon gern durcheinandergewirbelt hat, setzt mit dem aktuellen Projekt seiner Young Philadelphians neue Maßstäbe: Ribot. Drummer G. Calvin Weston, Bassist Jamaaladeen Tacuma und die ein wenig bieder wirkende Gitarristin Mary Halvorson ließen sich von einer intensiv jubilierenden dreiköpfigen Streichersektion ins Philadelphia der Siebzigerjahre versetzen.

Während Schlagzeuger und Bassist sich lustvoll in legendären Rhythmuspatterns des Discozeitalters verloren, changierte Ribot zwischen inniger Aneignung von melodischen Licks des Phillysoul-Gitarristen Norman Harris und dem Rütteln an Konventionen. Zu sehen, wie konservative Freitonliebhaber mit Discoklassikern wie dem Silver-Convention-Welthit „Fly Robin Fly“ hadern, allein das machte den Besuch dieses Konzerts reizvoll.

Zurück in den seligen Siebzigern

Dabei war die Beziehung zwischen Jazz und Disco-Soul nicht immer so gespannt wie in den vergangenen drei Jahrzehnten. In den seligen Siebzigerjahren schufen profunde Jazzinstrumentalisten wie Norman Connors, Herbie Hancock, Michael Henderson und Mtume – allesamt ehemalige Sidemen von Miles Davis – Klassiker des Disco-Soul. Selbst Pharoah Sanders nahm mit „Love Will Find a Way“ ein grandioses Disco-Soulalbum mit der opernhaften Sängerin Phyllis Hyman auf.

Ribot setzt beim Gesang deutlich weniger auf Schönklang: „Do it anyway you wanna“, der Schlachtruf der Philly-Band People's Choice aus dem Jahr 1975, brach rau aus seiner Kehle. „Love Rollercoaster“ von den einst so lasziven Ohio Players wurde zum rollenden Groovesong, der an Jimi Hendrix' afroamerikanische Band of Gypsies erinnerte; der Van-McCoy-Welthit „The Hustle“ wurde in neue Sounddimensionen katapultiert, als Zugabe gab's eine epische Version des Trammps-Klassikers „Love Epidemic“.

Was für eine spektakuläre Versöhnung von Genres, die schon ewig lang nicht mehr zusammengedacht wurden! Wie schön, dass sich auch Intellektuelle wie Ribot zuweilen die Narrenkappe aufsetzen, um die Gesten des Widerständigen zu erneuern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2016)

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