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Am Anfang des Punk: Ein böses Lachen

Rasierklingen? Coole Anzüge! Sex Pistols 1976 in der Carnaby Street.
Rasierklingen? Coole Anzüge! Sex Pistols 1976 in der Carnaby Street.(c) Rex Features/Ray Stevenson
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Vor 40 Jahren, am 26. November 1976, erschien „Anarchy in the U. K.“, die erste Single der Sex Pistols. Die Radios boykottierten sie bald, die Plattenfirma kündigte die Band. So effektvoll begann der größte Umbruch der Popgeschichte.

Keine Sicherheitsnadel, keine Rasierklinge, keine aus Zeitungen geschnittenen Lettern à la Erpresserbrief, keine anderen Insignien des Punk, nein, gar kein Bild, gar keine Schrift: Als die Single „Anarchy in the U. K.“ am 26. November 1976 in Großbritannien erschien – in einer Erstauflage von 15.000 Stück – steckte sie in einer rein schwarzen Hülle. Manager Malcolm McLaren erklärte das als Flagge der Anarchie, vielleicht änderte die Plattenfirma EMI deshalb schnell die Verpackung: auf ihre übliche neutrale Hülle.

Drei Tage nach Erscheinen klagte Dave Goodman, Produzent der B-Seite („I Wanna Be Me“), weil auf dem Label ein falscher Produzent vermerkt war. Doch die richtigen Ärgernisse sollten erst kommen: In der TV-Talkshow des etwas überforderten Bill Grundy begann Sänger John Lydon vulgo Johnny Rotten laut eigener Aussage „nach zwei Tagen auf Speed und ohne Schlaf“ Four-letter-words zu verwenden, was damals noch für massive Erregung in den Zeitungen sorgen konnte. Darauf weigerten sich die Arbeiterinnen im EMI-Presswerk, die Single zu verpacken. Die Gewerkschaft unterstützte sie, auch die Radiosender boykottierten solidarisch „Anarchy in the U. K.“. Einen Monat später, nach weiteren – wahren und erfundenen – Vorfällen, forderte ein Tory-Abgeordneter den EMI-Vorstandsvorsitzenden Sir John Read auf, die Sex Pistols zu entlassen.

Read tat das. „You did not believe we're for real?“, höhnte Rotten später im Song „E.M.I.“, der im November 1977 auf „Never Mind the Bollocks“, dem ersten – und einzigen echten – Album der Sex Pistols erschien. Bei Virgin, das damals als Hippielabel galt. Doch das ist eine andere Geschichte.

Viel Lärm um nichts? Zumindest Lärm um herrlichen Lärm, eingeleitet durch ein ätzendes „Right now“ und den bösesten Lacher der Popgeschichte. Dann geht Rotten, jede Silbe in seinem übertriebenen Cockney-Akzent höhnisch im Mund verbiegend und dann verächtlich ausspuckend, aufs Ganze: „I am an antichrist, I am an anarchist, don't know what I want, but I know how to get it, I wanna destroy . . .“

Heute staune er, dass ihm mit 20 diese Texte eingefallen sind, schrieb der derzeit wieder mit seiner Zweitband Public Image Ltd. hoch aktive Lydon 2014 in seiner Autobiografie „Anger Is An Energy“: „Diese Zeilen sind aufrichtig, kommen wirklich aus tiefster Seele.“ Und er erklärte: „Das Leben in England fühlte sich damals an wie in den Vierzigerjahren – andauernd Versorgungsengpässe, Stromausfälle, nicht abgeholte Müllsäcke auf der Straße.“
Zu den verbreiteten Irrtümern über den britischen Punk gehört die Idee, dass er eine Reaktion auf den Sozialabbau durch eine konservative Regierung – Maggie Thatcher! – gewesen sei. Als Sprache des Protests dagegen hat sich Punk später gewiss geeignet (wie gegen alle möglichen anderen Regierungen), doch in seinen Entstehungsjahren, 1976 und 1977, herrschte Labour, Thatcher kam erst 1979 an die Macht. Und der frühe Punk war politisch recht breit aufgestellt: vom Anarchismus der Pistols über die Kritik an der Gewerkschaft in „Right to Work“ von Chelsea bis zu den Clash, die die Lehren von „Karlo Marx & Fredrich Engels“ (wie sie in „The Magnifcent Seven“ sangen) vertraten. Was die Repräsentanten des Punk einte, war am ehesten eine tiefe Abscheu vor Führern, vor Helden: „No More Heroes“ von den Stranglers fasst das gut.

„Blitzkrieg Bop“. Noch weniger zutreffend als die Idee vom durchgehend „linken“ Punk ist natürlich die damals auch in österreichischen Medien grassierende Behauptung, dass Punk zum Rechtsextremismus tendiere. Da wurden Zeichen falsch gelesen. Wenn englische Jugendliche wie Sid Vicious oder Siouxsie Sioux sich mit Hakenkreuzen bemalten, wenn das US-Punkquartett Ramones vom „Blitzkrieg Bop“ sang, war das einfach die größtmögliche Provokation. Auch die gewiss nicht faschistisch angehauchte Wiener Punkband Chuzpe (die schon im Februar 1978 im Vorprogramm zu Blondie auftrat) hatte zu Beginn eine Kombination aus Swastika und Davidstern als Bandlogo. Als antirassistisches Zeichen verstanden wurde die schon in den frühen Tagen des Punk etablierte Allianz mit Reggae bzw. Ska, es ist eine bittere Ironie der Popgeschichte, dass auch die rechtsradikalen Skinheads – es gab freilich auch Redskins – zu Ska tanzten und Hemden mit dem Schachbrettmuster trugen, das die Gleichberechtigung von Schwarz und Weiß symbolisieren sollte.

Ein dritter, bis heute beliebter Irrtum ist das Klischee von der nihilistischen No-Future-Generation. Es leitet sich aus der zweiten Single der Sex Pistols, „God Save the Queen“, ab, doch darin heißt es vor allem „No future for England's dreaming“ und erst am Schluss „No future for me“. Ganz im Gegenteil: Die New Wave, die 1977 sofort den Punk ergänzte und erweiterte, war ganz verrückt nach Zukunft – „Into the future!“, riefen die Vibrators – und vor allem nach Gegenwart: Die Talking Heads nannten ihr erstes Album „77“, ihr Song „New Feeling“ begann mit dem ebenso programmatischen Satz: „It's not yesterday anymore.“

Was war 1976/77 gestern gewesen? Das konnte man damals ganz einfach und polemisch fassen: Hippietum. Woodstock. Räucherstäbchen. Indische Schals. Esoterik. Drogenlyrik. Gitarrensolos. Und, ja, zumindest am Anfang auch: Rockmusik. Darum tut es jedem, der sich damals wenigstens eine verschämte Sicherheitsnadel durchs Revers steckte, heute noch in den Ohren weh, wenn von Punkrock die Rede ist: Das ist eine Contradictio in adjecto. „It didn't matter what I was doing, it shouldn't be rock 'n' roll“, sagte Colin Newman von Wire. Gewiss, es gab Kontinuitäten, Iggy Pop wurde schnell als Vorläufer des Punk erkannt, die (ästhetisch nicht immer zurechnungsfähigen) Damned nahmen eine abgestumpfte Version des Beatles-Songs „Help“ auf die B-Seite ihrer ersten Single („New Rose“, ein nettes Wortspiel), die deutschen Fehlfarben schrieben auf ihr Album „Monarchie und Alltag“ das John-Lennon-Zitat „I always liked simple rock“. Aber im Prinzip galt die Parole, die die Parolenmeister von den Clash ausgaben: „No Elvis, Beatles, or The Rolling Stones in 1977!“ Und John Lydon lief schon, bevor er zu Johnny Rotten ernannt und als giftige Stimme der Sex Pistols rekrutiert wurde, mit einem T-Shirt durch London, auf dem er den Namen Pink Floyd durch ein davor gekritzeltes „I hate“ ergänzt hatte.

Peinliche Stones. Die plötzlich mit ihren kaum 35 Jahren als alt erklärten Größen des Rock, die Dinosaurier, die Boring Old Farts, wie man damals sagte, reagierten teils verschreckt, teils empört. Die Rolling Stones beeilten sich zu zeigen, dass sie auch noch jung und schlimm seien, und wirkten damit – mit „Some Girls“ (1978) – zum ersten Mal alt und peinlich. Unter anderem, weil sie dem Irrglauben unterlagen, dass Frauenfeindlichkeit cool sei. Und das war sie 1976/77 nicht mehr. Natürlich dominierten auch im Punk die Männerbands, aber sie verzichteten – von den lüsternen Stranglers einmal abgesehen – auf Sexismen –, und es gab, neben der Hippietum und Punk beharrlich verbindenden Patti Smith, einige Frauen, die eine große Rolle spielten: The Slits etwa (mit Zeilen wie „Who invented the typical girl?“), Siouxsie Sioux (die dann zum Role model der New Romantics wurde) oder die wunderbaren X-Ray Spex, die mit „Warriors at Woolworth“ die bis heute beliebte Großstadtindianer-Attitüde auf den Punkt brachten.

All das und viel mehr hat den größten Aufbruch ausgemacht, den die auf dem Rock 'n' Roll basierende Popmusik (nach ihrer primären Explosion) durchlebt hat: Sie zehrt heute noch von seiner Energie. „Right now.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2016)

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