Ron Carter und Richard Galliano spielten im Wiener Konzerthaus.
Jahrzehntelang war das Akkordeon das wichtigste Instrument der Pariser Straßenmusiker. Die Musette, diese walzerselige Volksmusik, die auch heute noch vereinzelt in der Pariser Metro hallt, war auf seinen Klang angewiesen. Serge Gainsbourg schrieb ihm mit „L'Accordeon“ eine Hymne, die selbst so intellektuelle Chansonnièren wie Juliette Gréco leidenschaftlich interpretierten. Und doch war dieses sperrige Teil 1991 längst aus dem Pariser Alltag verschwunden, als Richard Galliano das klischeebehaftete Genre mit Elementen des Jazz versah und so die „Musette Neuve“ begründete. Schon ein Jahr davor hatte er mit dem Jazzbassisten Ron Carter das Album „Panamahattan“ eingespielt, das schon ein wenig nach diesem neuen Stil klang.
Kürzlich ist mit „Live At The Theaterstübchen Kassel“ das erst zweite Album dieses introvertierten Duos erschienen. Doch live spürte man rasch, dass die beiden regelmäßig miteinander spielen. Das zeigten ihr traumwandlerisches Interplay, die Furchtlosigkeit, mit der sie der Stille ihren Platz in der Musik ließen, sowie die Innigkeit ihrer Mischung aus Musette, Blues, Tango und Jazz.
Ein Instrument seit 54 Jahren
Der Opener, das nachdenkliche „It's About Time“ gab die Route vor. Ron Carter, ganz der Sir, ließ zunächst Galliano glänzen. Der hatte jenes Victoria-Akkordeon umgeschnallt, für dessen Anschaffung seine Großmutter vor über 40 Jahren ein Grundstück in Italien verkauft hat. Er spielt es seit 1963. Die klangerzeugenden Stimmzungen in seinem Inneren sind immer noch original. Mit anderen Worten: Dieses Instrument hat Seele. Mit diskreten Bewegungen steuert Galliano das Pneuma der altgedienten Quetsche.
Milde Melancholie regierte zwei Tangos von Astor Piazzolla. Besonders „Libertango“ berührte. Überraschend fröhlich dagegen klang Carters Hit „Einbahnstraße“ (1970). Auch „Ah Rio“, ein Abstecher in den Samba, geriet heißblütig. Schöner aber waren die Momente, wo es wehmütig herging. „Tango Pour Claude“ etwa, oder „All The Things You Are“. Zuweilen ließ Galliano sein Instrument großorchestral auftrumpfen, meist aber wählte er die stillen Töne. Eine Erinnerung an die in früheren Zeiten gern praktizierte Kunst des Verweilens; heilender Bitterstoff in einer von Reizen überzuckerten Ära.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2017)