P. J. Harvey: Predigt ohne Parolen

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Die britische Sängerin P. J. Harvey widmet sich auf ihrem neuen Album den Wurzeln des Unfriedens und erklärt, was das Kreuz mit dem Nationalstolz ist.

Auf „Let England Shake“, Polly Jean Harveys achtem Soloalbum seit 1992, präsentiert sich die holde Underground-Queen als geschichtlich versierte Beobachterin der britischen Gesellschaft. Da kommt die Schlacht von Gallipoli, eine berühmte Grausamkeit des Ersten Weltkriegs, genauso vor wie die Tumulte in Nahost und im Irak. In die Pose der Protestsängerin lässt sie sich dennoch nicht zwängen. Es sind die gesellschaftlichen Auswirkungen politischen Handelns, die P. J. Harvey interessieren. Gemeinsam mit alten Freunden wie John Parish, Mick Harvey und Flood nahm die sonst für quälende Innenschau bekannte Künstlerin in einer Kirche im idyllischen Dorset auf. Im Gespräch gab sich die oft exzentrische Musikerin erstaunlich handzahm.

Hatten Sie dieses Interesse an Geschichte immer schon, oder entwickelten Sie es für dieses Album?
Das hatte ich immer schon. Bis jetzt hab ich nie daran gedacht, das einmal in meinen Songs zu nutzen. Kriege sind leider immer noch eine Konstante in dieser Welt.

Tim Buckley sang in den späten 60ern diesen schönen Song „No Man Can Find The War“. Er verortete die Ursache des Krieges grundsätzlich im Charakter des Menschen. Stimmen Sie ihm zu?
Ich fürchte, es ist so. Was sich bei meinem Projekt früh ergab, war, dass ich unbedingt alles aus der Perspektive des einzelnen Menschen zeigen wollte. Die Wurzel des Krieges ist sicher darin zu suchen, wie Menschen einander im Alltag begegnen. Da kann man schon alles Konflikt- und Zerstörungspotenzial ausmachen, das sich dann im Krieg potenziert.

Sie behandeln im Lied „Battleship Hill“ ausgiebig die Schlacht von Gallipoli. Was ist für uns Heutige noch interessant daran?
Mir ging es darum, die zeitlosen Aspekte der Grausamkeit herauszuarbeiten, die ja in unseren heutigen Konflikten, etwa Afghanistan und Irak, oft so geschönt wird. Einerseits passiert dies durch die Art aktueller Berichterstattung, andererseits durch sprachliche Zensur. Die Zerstörung durch den Krieg und der Wiederaufbau – das ist ein Muster, das sich durch die Menschheitsgeschichte zieht. Krieg ist ein zyklisches Phänomen. Was Gallipoli so interessant macht, ist die immense Brutalität, mit der da das Soldatenblut verspritzt wurde.

Sie sagten kürzlich in einer Sendung auf BBC, dass Sie keinesfalls eine Protestsängerin sein wollen. Was ist falsch daran?
Protestsänger verkürzen alles sprachlich. Mir sind Slogans und Parolen zuwider. Man muss dem Hörer die Möglichkeit eines eigenen Zugangs zu Phänomenen geben. Deshalb ziehe  ich es vor, Zustände nur anzudeuten. Vereinfachung und Predigerton zwingen Leuten immer etwas auf. Das lehne ich ab.

Was kann gute Popmusik überhaupt noch leisten, in einer Ära, die auf beinah totalitäre Weise Entertainment zwischen Castingshows und Charts forciert?
Das ist eine interessante Frage, die möchte ich gleich an Sie zurückgeben. Ich weiß keine Antwort.

Nun, ich würde mir von einem guten Popsong erwarten, dass er dem Hörer potenziell eine neue Denkrichtung oder eine neue Art des Fühlens vorgibt . . .
Da stimme ich mit Ihnen überein. Auch ich glaube an die Kraft des Lieds. Ein Song kann dich mit Energie und mit Sinn aufladen, selbst inmitten des Kommerz-Overkills.

In Ihrem Song „England“ singen Sie, dass Sie „durch England sterben und leben“ und dass dies einen bitteren Geschmack hinterlässt. Wodurch werden Menschen an eine Nation gebunden?
Mein Song heißt „England“, aber mir war wichtig, ihn sprachlich so offen zu lassen, dass jeder Hörer seine Nation einsetzen kann. Diese widersprüchlichen Gefühle dem Land gegenüber, dessen Teil man von Geburt an ist, die kennen doch viele Menschen aus ihrem Alltag. Es wird ja so viel gesagt und getan im Namen aller, dass daraus viele Frustrationen erwachsen. Wir mögen durch Kultur an eine Nation gebunden sein, gleichzeitig gibt es aber etwas Unzerstörbares in uns, das die Nation immer transzendiert.

Das „Q Magazine“ hat Ihren Auftritt in der Andrew-Marr-Show als einen raren Moment von Rock'n'Roll-Subversion bezeichnet. Ein spezieller Gast musste Ihre heimatkritischen Töne mitanhören. Es war der damalige Kanzler Gordon Brown. Wie fanden Sie das?
Ich hatte keine Ahnung, dass er da sein wird. Aber es ist definitiv ein Highlight für mich, dass er diesen Song in der damaligen Phase seines politischen Lebens live hören musste.

Sie waren einer der wenigen Menschen, die mit dem legendären kürzlich verstorbenen Don Van Vliet alias Captain Beefheart persönlich in Kontakt standen. Hat er „Let England Shake“ noch hören können?
Don war immer einer meiner großen musikalischen und denkerischen Helden. Getroffen hab ich ihn leider nie. Aber unsere stundenlangen Telefonate waren wunderbar. Ich habe ihm jedes meiner Alben vor Veröffentlichung geschickt, auch dieses. Er hat es gut gefunden.

TIPP

Let England Shake von P. J. Harvey (Universal), www.pjharvey.net

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