„Clavigo“: Mehr Frauen in die Männerrolle

(c) Stefan Klüter
  • Drucken

Stephan Kimmig über „Clavigo“ mit Susanne Wolff in der Hauptrolle, und warum Menschen andere benutzen.

Eine Frau betrachtet ihr Baby. Beim Baden lässt sie es langsam ins Wasser gleiten, schon ist der Kopf unter Wasser, das Baby hustet, die Frau nimmt es auf den Arm. Ihr Gesicht ist undurchdringlich. Postnatale Depression heißt das Leiden der Frau in Emily Atefs atmosphärisch dichtem Film „Das Fremde in mir“ (2008). Susanne Wolff spielt die junge Mutter und macht aus einem Hormonschock eine eindringliche Studie, sie lässt das Staunen der Frau über die jäh auftauchenden Abgründe in sich sehen. 2005 spielte Wolff, 1973 in Bielefeld geboren, seit 2009 am Deutschen Theater in Berlin engagiert, Kleists Penthesilea in der Regie von Stephan Kimmig bei den Salzburger Festspielen: „Eine tödliche Scheidungsgeschichte wie von heute“, schrieb „Die Presse“. Heuer ist Wolff als Clavigo im Landestheater zu sehen, wieder inszeniert Kimmig die Aufführung nach Goethes Klassiker. „Ich hasse Interviews, weil ich nicht will, dass die Leute etwas Intimes über mich erfahren“, erklärte Wolff 2012 im Interview mit der „Presse“. „Die Zeit“ bezeichnete sie als „Emotionsjunkie“, was Wolff bestätigt. Sie spielte unter anderem Maria Stuart oder Hedda Gabler, über Klassiker meint sie: „Ich staune immer wieder, wie aktuell diese Stücke sind, und bewundere Autoren wie Schiller oder Goethe, die Texte schaffen, die so lang Bestand haben.“ Ihre Identifikation mit ihren Figuren sei „extrem“: „Meine Rollen gehen durch mich hindurch und wieder aus mir heraus.“ Eine Sache des Blutes, sozusagen, das erklärt die starke Innerlichkeit, die Figuren, die Wolff spielt, ausstrahlen.

Lustvoll depressiv. Clavigo ist prima vista ein übler Karrierist, er lässt die Frau sitzen, der er die Ehe versprochen hat, dann kommt er zurück, um sie erneut zu verlassen, weil sie krank ist und Freund Carlos ihm zu einer besseren Partie rät. „Es geht mir nicht um den Gegensatz zwischen Liebe und Karriere“, erläutert Kimmig. Der gebürtige Stuttgarter hat am Burgtheater unter anderem „Die Rosenkriege“, eine Kombination von Shakespeares Königsdramen, „Macbeth“ und Goethes „Torquato Tasso“ inszeniert. „,Clavigo‘ handelt davon, wie man Menschen ausquetscht“, sagt Kimmig. „Wie hole ich mir die selbst benötigte Energie beim anderen, um dann produktiv beziehungsweise kreativ zu sein? Wie benutze ich den anderen, wie lässt er sich benutzen?“ Auch in Beziehungen gibt es ein Kosten-Nutzen-Verhältnis, so Kimmig: Die Beziehung lebt so lang, „wie wir selbst inspiriert sind“. In seiner Salzburger Aufführung wird Marie, das von Clavigo verschmähte Mädchen, von Marcel Kohler gespielt: „Marie ist nicht krank, höchstens lustvoll depressiv, sich zu verbrennen, zu verbrauchen, herzuschenken.“ In dieser Haltung, meint Kimmig, soll auch eine künstlerische Provokation zum Ausdruck kommen: „Marie wagt sich nahe an das Verdämmern, an den Tod heran. Das ist spannend, aufregend, aber für manche eben auch vernichtend, wie man etwa bei Amy Winehouse gesehen hat.“

Marie sucht den Schmerz, auch aus ihrer Situation als Künstlerin, so werde sie (beziehungsweise er) in Salzburg zu erleben sein. Die Grenzgänge der Partnerin, des Partners, ziehen Clavigo magisch an, weil auch er glaubt, Erfahrungen und Energie daraus zu ziehen und davon für seine Karriere zu profitieren, die ihm äußerst wichtig ist und ihn vom Rand in den Mainstream befördern soll. Clavigo wittert, dass Marie ihm quasi aus ihren inneren Untiefen Kraft spenden kann. „Clavigo sucht auch das Abgründige, Zerstörerische für seine Kunst“, erläutert Kimmig weiter, „für eine begrenzte Zeit gibt der Mensch ja gern die Kontrolle ab, verliert sich, lässt sich auf das Unübersichtliche, Chaotische, Kaputte ein.“ Es gibt ebenso den Wunsch, sich vom auch in der Kunst üblichen Rendite- und Kommerzdenken bewusst abseitszuhalten. Der Tod kann sogar verlockend sein: „Vielleicht beginnt ja im Sterben das wahre Abenteuer. Dahinter wartet das Unbekannte, die absolute Freiheit. So denken ja nicht so wenige Künstler, nicht nur in der Popbranche“ (Kimmig). Live fast, die young. Aber ein wenig Kalkül ist immer dabei. Kimmig: „Clavigo und Marie nehmen ihren Liebesschmerz ernst, um daraus Kunst zu machen. Sie wollen radikal denken und leben, dabei und dafür benutzen sie einander, das ist sogar okay.“ In dieser Idee oder Lebensweise äußert sich der Wunsch, einer Welt von Egoshootern zu entfliehen, sich selbst zu vergessen, sich selbst abzuschaffen. Marie geht diesen Weg bis zum Ende, Clavigo biegt in die Karriere ab. Beide haben Angst, sich und den anderen zu verlieren, beide haben Angst, allein zu sein: „Aber dann gibt es wieder einen Song, der Zuschauer kann mitfiebern, sich emotional pimpen lassen.“ Und das Publikum soll auch wohlig grübeln: „Woher haben sie das nur, diese Künstler, dieses Sich-Verbrennende?“ Welch ein schöner Ausgleich zu den überschaubaren Fahrwassern des Lebens.

Rückkehr der Hengste. Das ist für Kimmig ein wesentlicher Aspekt, eine Art Dienstleistung des Theaters: „Das Publikum zahlt hohe Preise für eine Karte, um abgeholt und an eine Grenze getragen zu werden, die es vielleicht fürchtet.“ Die Frau als Opfer, der Mann als Täter, wie es „Clavigo“, Goethes Stück, zeichnet, das empfindet Kimmig als „eine so durchgekaute Sache, dass es einen fröstelt“. Aber nicht, weil wir „in einer emanzipierten Gesellschaft leben, im Gegenteil, derzeit erleben wir einen Rollback. Wir brauchten eigentlich dringend eine zweite Feminismus-Welle.“ Aber der Regisseur will die Geschichte nicht durch die Augen des männlichen Geschlechts, „des Hengstes“, sehen: „Das ist zu öde und bekannt.“ Leiden Frauen anders als Männer? „Das ist eine gute Frage. Das handelnde Objekt ist bei uns eine Frau, da sie künftig öfter das handelnde Objekt sein sollte. Wir brauchen Frauen in der Handlung, der Action, neue Vorbilder. Die Welt ist männlich verseucht.“ Wird sie nicht immer androgyner? „Gar nicht“, widerspricht Kimmig: „Die Männer schlagen zurück und stecken ihre alten Claims wieder ab. Das ist langweilig. Es muss viel mehr Frauen geben, die Karriere machen und ihre Männer nach Strich und Faden betrügen. Männer müssen lernen, dass sie nicht so wichtig sind und meistens dümmer als Frauen.“ Kann die Kunst etwas bewirken und was? Kimmig: „Der Künstler soll uns innerlich aufreißen, unseren Kopf, unser Herz durchpusten. Mich interessiert, wo er seine Bilder herholt, seine Energie, seinen Dickschädel, seinen Irrsinn.“ Hingegen dürfe man Künstler nicht überschätzen: „Letztlich sind sie wie der Clown, der Narr, der sich trollen muss. Die Künstler sollen sich nicht zu viel einbilden.“ Welche Zukunft haben Klassiker? „Klassische Texte müssen stark nach der Gegenwart befragt werden. Man muss eine Reibung zum Heute finden. Oft sieht man die bohrenden Themen vor lauter Altertümelei und ästhetischer Nettigkeit nicht mehr. Dann bohrt nichts mehr.“

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.