Liessmann: "Man hört auf, allem nachzujagen"

Liessmann hoert allem nachzujagen
Liessmann hoert allem nachzujagen(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Konrad Paul Liessmann ist gestern sechzig geworden. Schon länger denkt er über das Alter nach – doch nicht über sein eigenes, denn für so interessant hält er sich nicht. Der Diskurs mit seinen Studenten hilft ihm dabei, sich der Welt nicht zu entfremden und das allmähliche Nicht-mehr-Verstehen hinauszuzögern. Dennoch wünscht er sich mehr Gelassenheit beim Älterwerden.

Herr Liessmann, ich möchte mit Ihnen über das Älterwerden sprechen.

Konrad Paul Liessmann: Oh Gott.


Wieso denn? Für einen Philosophen ist das Alter geradezu ein Qualitätsausweis. Sie könnten also erleichtert sein, endlich sechzig zu sein.


(Schweigt lang.) Das Wort „erleichtert“ ist nicht das richtige. Natürlich muss man dankbar sein, wenn man dieses Alter ohne größere Probleme erreicht hat. Aber das Alter ist keine Aufgabe, die man bewältigt hat. Kein Ziel, das man durchläuft. Es ist nur etwas, was sich ergibt. Und Alter schützt auch einen Philosophen nicht vor Torheit.


Wenn Sie „man“ sagen, meinen Sie dann „ich“?

Ja und nein. Als Philosoph unterscheidet man ja nicht zwischen sich und der Welt. Individuelle Erfahrungen werden, wenn sie reflektiert werden, zu allgemeinen Erfahrungen. Allerdings würde ich über nichts nachdenken, was nicht auch mit mir selbst zu tun hat. Das heißt nicht, dass ich mich mit mir selbst beschäftige, überhaupt nicht – oder nur auf Umwegen.


Denken Sie nie über sich nach?

Nein! Warum soll ich über mich selbst nachdenken?


Warum sollte man nicht über sich selbst nachdenken?

Weil es Interessanteres gibt als das eigene Ich. Etwa die Auseinandersetzung mit der Welt. Über sich selbst nachdenken hieße, ich frage mich: Wer bin ich? Worin besteht meine Identität? Soll ich in eine Therapie oder einen Selbstfindungskurs gehen? All diese Fragen habe ich mir ehrlich mein ganzes Leben lang nie gestellt. Ich bin nicht der Typ, der sich in sich sucht. Ich erfahre mehr über mich, wenn ich Søren Kierkegaard lese.


Sie denken nicht über sich nach, aber Sie interessieren sich für sich?


Ich interessiere mich für mich, so sehr sogar, dass ich arroganterweise davon ausgehe, dass Kierkegaard seine Bücher für mich geschrieben hat. Umgekehrt möchte ich diese Einsichten, die ich in diesen Auseinandersetzungen machen kann, gleich wieder zu Theorien über die Welt verarbeiten, in denen mein Ich verschwinden kann. Offen gestanden wäre es mir peinlich, in der Öffentlichkeit von mir zu reden. Für so wichtig halte ich mich nicht! Das, was ich in einem größeren Kreis äußere, der nicht den Charakter privater Intimität hat, muss doch einen allgemeinverbindlichen Anspruch haben. Man muss schon ein sehr großes Ego haben, um zu glauben, man ist als der, der man ist, schon interessant genug für die Öffentlichkeit.


Dieses Ego haben Sie nicht?

Überhaupt nicht! Vielleicht bin ich hier altmodisch: Wichtiger als die Person ist das Werk. Aber dieses aktuelle Ineinanderfließen von öffentlichem Anspruch und privater Befindlichkeit ist mir zuwider.


Hat Sie Ihr Sechziger dazu bewegt, über das Alter nachzudenken?


Doch, ja! Worüber man nachdenkt, ist nicht unabhängig von der eigenen Lebenssituation. Als Jugendlicher habe ich über die Revolution nachgedacht, jetzt denke ich über das Alter nach.


Ist es als Philosoph leichter zu altern?

Ich denke ja. In jedem Beruf hat Alter einen anderen Stellenwert. Ein Profisportler, der mit 32 Jahren erkennen muss, es ist vorbei, macht schon früh die Erfahrung: Das, wofür sein Herz geschlagen hat, ist von äußerst begrenzter Dauer. Der Beruf des Philosophen ist sicher einer, bei dem man im hohen Alter noch zusätzliche Qualitäten generieren kann. Ich meine damit nicht Lebenserfahrung. Man kann eben Hegel oder Kant nicht in einigen Tagen erledigen, man braucht dazu Zeit, Lebenszeit! Und wenn man schon das schreckliche Wort „Wettbewerbsvorteil“ in den Mund nehmen will, so gilt wohl für die Philosophie, vielleicht auch für die Kunst: Das Alter kann ein Vorteil sein.


Als Universitätsprofessor sind Sie ständig von Studenten umgeben . . .


. . . ein Privileg, das ich, je älter ich werde, immer mehr zu schätzen weiß. Jean Améry spricht in einem Essay über das Phänomen der Alienation: Der alternde Mensch entfremdet sich sukzessive von der Welt, in der er lebt, weil er sie nicht mehr versteht. Er hat damit sicherlich recht. Aber wenn man ständig mit jungen Menschen diskutiert und in Kontakt ist, kann man diesen Prozess des allmählichen Nicht-mehr-Verstehens doch etwas verzögern, denke ich.


Wie hat Ihr Elternhaus auf Ihre Entscheidung, Philosophie zu studieren, reagiert?

Das war ganz einfach. Mein Vater, der selbst kein Akademiker und Alleinverdiener war, sagte: Ich finanziere dir ein Studium in der Mindeststudienzeit. Was du studierst, ist allein deine Sache. Denn, ob du davon leben kannst oder nicht, ist auch allein deine Sache. Das fand ich fair. Wir haben uns beide an diese Vereinbarung gehalten – und ich bin nicht verhungert.

Haben Sie gemerkt, dass er stolz auf Sie war?

Ja, freilich, zunehmend.


Hat Ihre Begeisterungsfähigkeit im Alter abgenommen?


Jedenfalls nicht für die Philosophie, nicht für die Kunst, nicht für die Oper. Aber man wird weniger hysterisch, vielleicht sogar etwas abgeklärt. Das, wofür man sich begeistert, hält man nicht mehr für das Wichtigste auf Erden. Man hört auf, allem nachzujagen. Man lebt nicht wie ein junger Mensch in der Utopie, dass man alles machen muss.


Was hat Hysterie mit Begeisterung zu tun? Begeistern kann eine Begegnung, der Anblick eines Kindes, der Duft von Lavendel.

(Schweigt.) Zur Begeisterung gehört die Affizierung des Geistes. Das, worüber Sie sprechen, sind Stimmungen, Berührungen, geglückte Augenblicke. Die Sensibilität für solche Momente nimmt im Alter nicht prinzipiell ab, aber sie wird zunehmend eingeschränkt durch Besorgnisse, die in den Vordergrund treten. Der eigene Körper ist für den jungen, gesunden Menschen kein Thema. Später spürt man die Abnahme der eigenen Leistungsfähigkeit, man achtet immer mehr auf alle möglichen Signale der eigenen Physis. Das schränkt bei der Hinwendung zur Welt ein.


Sie haben viele wissenschaftliche Arbeiten und Essays über Fragen der Ästhetik verfasst. Glauben Sie, dass ein älter werdender Körper schön sein kann?


Auch wenn ich es selbst nicht gern höre: Beim menschlichen Körper ist Jugendlichkeit ein wesentlicher Bestandteil der Schönheit. Da sollen wir uns keine falschen Vorstellungen machen. Die Darstellung des Nichtschönen kann allerdings sehr wohl schön sein, wie schon Kant sagt. Alles kann ästhetisiert werden, auch der alte Mensch. Aber die Glätte der Haut, die Vitalität, das Pure sind wesentlicher Bestandteil unserer Konzeption der menschlichen Schönheit seit der Antike. Sonst gebe es nicht den Anti-Aging-Kult, der nicht nur dazu dient, länger fit zu bleiben.


Odysseus und Kalypso, Faust und die Hexen, Dorian Grey und sein Porträt – das sind alles Geschichten älterer Männer über deren Sehnsucht, ewig jung zu bleiben. Zählen Sie sich dazu?

Diese Sehnsucht kennt wohl jeder – und nicht nur Männer. Die transzendente Variante dieser Sehnsucht ist der Wunsch nach Unsterblichkeit. Einer der schönsten Aspekte der christlichen Religion ist ja die Idee der Auferstehung des Fleisches – im Gegensatz etwa zur antiken Konzeption einer Unsterblichkeit der Seele. Aber niemand stellt sich die Auferstehung eines siechen Körpers vor, sondern eines jungen, blühenden, gesunden. Das zeigt, wie tief diese Sehnsüchte kulturell in uns verankert sind.


Der Idealfall wäre, in Gelassenheit älter zu werden . . .

. . . das war nie einfach, und heute ist es umso schwerer. Denn man erlaubt uns nicht, in Gelassenheit älter zu werden. Man muss dem Bild des aktiven Seniors entsprechen, der fit, sportlich und lernbereit ist, sexuell aktiv und sich den neuen Technologien öffnet. Der Alternde steht in seinem Altern genau unter dem Leistungsdruck, von dem er gehofft hat, das Alter würde ihn davon befreien. Er darf, obwohl er aus dem Gestern kommt, sicher eines nicht sein: gestrig. Vielleicht sollten wir wieder lernen, gelassen älter zu werden.

Herr Liessmann,
darf man Sie
auch fragen . . .


1 . . . ob Sie sich auch heute noch für eine Wagner-Oper stundenlang anstellen würden?
Für eine Wagner-Oper würde ich vieles, sehr vieles tun – aber anstellen möchte ich mich nicht mehr.


2 . . . ob das Älterwerden leichter ist, wenn man Kinder hat?
Das hängt wohl von den
Kindern ab.


3 . . . ob Sie vielleicht einmal einen Roman schreiben werden?
Aus der Reflexion in die Fiktion, aus der Argumentation in die Erzählung, aus der Philosophie in die Poesie zu wechseln – das könnte schon sehr reizvoll sein.


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