Fergus Henderson: Borstenvieh und Lebenswerk

Exzentrisch. Markenzeichen Eulenbrille, Teilzeitmarkenzeichen Schweinskopf.
Exzentrisch. Markenzeichen Eulenbrille, Teilzeitmarkenzeichen Schweinskopf.(c) Beigestellt
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Zwanzig Jahre St John und „Nose to Tail“: Fergus Henderson wurde für seinen Einfluss auf die Gastronomie ausgezeichnet.

Das Signature Dish: Knochenmark mit Petersilie und Brot.
Das Signature Dish: Knochenmark mit Petersilie und Brot. (c) Beigestellt
Nose to Tail. In Sachen Merchandising ist man nicht allzu bescheiden unterwegs.
Nose to Tail. In Sachen Merchandising ist man nicht allzu bescheiden unterwegs.(c) Beigestellt

„Es ist eine Frage der Höflichkeit.“ Und Fergus Henderson meint damit nicht, eine Sau mit gnädige Frau anzusprechen, bevor man ihr fein säuberlich das Filet heraustrennt und den Rest wegwirft. Sondern er meint: Verwende alle Teile des Tieres, wenn es schon für dich stirbt. Auch die Ohren, das Schwänzchen, die Lunge. Der Brite hat die Bewegung „Nose to Tail“ geprägt. Dafür wurde er nun mit dem Lebenswerkpreis im Vorfeld der „World’s 50 Best Restaurants“-Liste ausgezeichnet, die am 28. 4. veröffentlicht wird. Mit der Entscheidung der Jury wird einer Entwicklung Rechnung getragen, die unübersehbar ist. Nose to Tail, also das Motto „Von der Schnauze bis zum Schwanz“, ist kein obskures Thema für Foodie-Geheimklubs mehr, sondern in aller Munde. Zumindest im übertragenen Sinn. Lippenbekenntnisse, wie wichtig die Ganztierverwertung sei, gehen einem leichter von der Zunge (wie körperteilreich doch unsere Metaphern sind!) als Hühnerfüße und Entenherzen in den Mund. Für Hasenfüße (schon wieder) oder Vegetarier gibt es auch eine fleischlose Variante von Nose to Tail: Root to Stalk, von der Wurzel bis zum Stiel.

Knochenmark. Fergus Henderson, Architektensohn und selbst studierter Architekt, eröffnete 1994 mit Trevor Gulliver das erste seiner St-John-Restaurants in London. Und bestückte die Speisekarte mit Gerichten wie Knochenmark und Petersilie, Eichhörnchenherzen mit Rettich, Lammzunge mit Rüben oder Schnepfe mit gespaltenem Kopf, aus dem man das Hirn löffeln soll. Für London und die USA, in die Hendersons Art zu kochen schnell übergeschwappt ist, war das vor zwanzig Jahren revolutionär. In anderen Gegenden – etwa in Wien, Florenz, Lyon, München oder Shanghai – hätte jemand wie Fergus Henderson nie derart für Aufsehen sorgen können. Knochenmark? Schockiert keinen eingeborenen Wiener. Kutteln als revolutionäres Gericht? Ma, stai scherzando? Schweinsfuß als Aufreger? Nicht in Lyon. Zu sehr sind da wie dort Tierextremitäten und Innereien Teil der Kochhistorie.

Hendersons Erfolg wird zum Teil an seinem exzentrischen Auftreten und seinen markigen Aussagen liegen: böse Witze gegen Veganer, Eulenbrille und bisweilen die Mimik eines Stummfilmkomikers, Fernet-Branca zum Frühstück, Sherry zum Gabelfrühstück. „Es gibt wenige Fotos, auf denen ich keinen Schweinskopf halte“, hat er einmal gesagt (das stimmt nicht ganz, klingt aber gut). In die Hände gespielt hat Henderson sicher die Epoche, in der er sein Nose-to-Tail-Konzept aufgebaut hat: In den letzten zwanzig Jahren wurde mit den Supermärkten die Anonymisierung von Fleisch auf die Spitze getrieben. Henderson nennt folierte Fleischtassen „Pink in Plastik“. Bewusste Esser und Gastrovordenker in allen möglichen Weltgegenden sind umso dankbarer auf den Zug der Ganztierverwertung aufgesprungen und haben Hendersons Ruhm forciert.

Einfluss. Darunter ist auch Anthony Bourdain, medienaffiner Koch und Chronist diverser Küchengrauslichkeiten. Der New Yorker Bourdain hat, so besagt dessen Vorwort zu Hendersons Buch „Nose to Tail Eating“, das St John zu seinem weltweiten Lieblingsrestaurant auserkoren. Und die knusprigen Schweinsschwänzchen als eines der besten Gerichte bezeichnet, die der Leser je essen wird. Anthony Bourdain schreibt gar in seiner Begeisterung, dass jeder Schweinsbauch, jedes Knochenmark, jede Niere und jedes Bäckchen auf einer amerikanischen Speisekarte auf Fergus Henderson zurückzuführen sei. Das dürfte, für Bourdain typisch, etwas übertrieben sein. Und es blendet komplett aus, wie groß der Nose-to-Tail-Einfluss etwa von chinesischen Einwanderern in den USA ist.

Der deutsche Obergourmet und Innereienliebhaber Wolfram Siebeck fand Anthony Bourdains Begeisterung jedenfalls ziemlich lächerlich. Für ihn, Siebeck, sei im St John gerade einmal das hausgebackene Brot überdurchschnittlich gewesen. Ohne den Kniefall Anthony Bourdains, schreibt Siebeck in der „Zeit“, „wäre das St John nicht erwähnenswert. Abgesehen vom Kochbuch des Fergus Henderson.“ Nicht ganz fair scheint es angesichts dieses Buch-Lobs von 2005, dass Siebeck sein erst drei Jahre später erscheinendes eigenes Innereienkochbuch als ein Buch bezeichnet, auf das er „bis jetzt vergeblich gewartet“ habe.

Lässigkeit. Fergus Henderson, dieser polarisierende Gastronom ohne klassische Kochausbildung, ist nicht nur durch seine Philosophie der Ganztierverwertung einflussreich. Sondern auch durch emblematische Kombinationen wie Schnecken-Schweinsbackerln-Liebstöckel, die heute in abgewandelter Form in vielen Lokalen zu finden ist, etwa mit Hühnerherzen oder Kaninchennieren statt Schweinsbackerln. Und viele der oft wechselnden Gerichte in den St-John-Restaurants bestechen durch diese gewisse Lässigkeit, die jenen britischen Köchen eigen ist, die sich mit den traditionellen Rezepten des Vereinigten Königreichs beschäftigen. So sind auch die Desserts (die hier sogar ohne Tierkörperteile auskommen) interessant. Hendersons aktuelles Buch „The Complete Nose to Tail“ liefert zahlreiche Rezepte, die man auf der Stelle nachkochen will. Wenn Henderson übrigens für seine Familie kocht, gibt es mitnichten Schweinsohren und Lammherz: Beim Nose-to-Tail-Vorreiter wird mehrheitsfähig italienisch gekocht.

Tipp

St John ist Fergus Hendersons Londoner Restaurantunternehmen mit Filialen in 26 St. John Street, 94–96 Commercial Street und 72 Druid Street. www.stjohngroup.uk.com

Das Kochbuch „The Complete Nose to Tail“ ist ein sehr empfehlenswertes Kompendium, das nicht nur Fleischrezepte enthält. Um 43,20 Euro bei Babette’s, Am Hof 13, 1010 Wien.

Nose to Tail nehmen auch heimische Köche immer wieder zum Motto für ganze Menüs. Hollmann Salon in Wien etwa serviert jeden Monat ein neues Nose-to-Tail-Menü. Im Heiligenkreuzerhof,Grashofgasse 3, 1010. www.hollmann-salon.at
Die nächsten 13-gängigen Innereienmenüs im Gut Purbach: 16. Mai, 26. Juni. gutpurbach.at
Bei Adi Bittermann in Göttlesbrunn gibt es jeden Donnerstag ein Innereienmenü. bittermann-vinarium.at

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