Stevia: Die Wunderpflanze, die keine ist

Stevia Wunderpflanze keine
Stevia Wunderpflanze keine(c) Www.BilderBox.com
  • Drucken

Der aus der Pflanze Stevia extrahierte Süßstoff wird in der EU zugelassen. Die Erwartungen in das Mittel – keine Kalorien, keine Karies – sind hoch. Zucker ersetzen wird es dennoch nicht.

Ein Stoff, aus dem Träume gemacht werden: Stevia, eine Pflanze aus Paraguay, soll uns endlich vom bösen Zucker befreien. Wir können Süßes schlemmen, bis uns schlecht wird, ohne dabei dick zu werden. Kinder können auf Karies pfeifen und so viel Limonade trinken, wie sie wollen. Und Diabetiker müssen nicht mehr in der Konditorei nach der langweiligen, zuckerarmen Variante fragen, sondern können aus dem vollen Sortiment wählen. Gut, Süßstoff ist nichts Neues. Aber jetzt hat die Lebensmittelbehörde der EU mit Steviolglycosiden – so der Name des aus der Pflanze gewonnenen Etrakts – endlich einen Süßstoff zugelassen, der aus einer Pflanze gewonnen wird. Allein der dadurch vermittelte Nimbus der Natürlichkeit lässt uns das Mittel automatisch mit dem Schlagwort „gesund“ assoziieren. Dazu kommt, dass das Süßungsmittel in Japan schon seit Mitte der 1970er-Jahre verwendet wird. Und auch bei den Japanern haben wir schnell ein Bild im Kopf: schlank, jung geblieben und gesund.


300-mal süßer als Zucker. Und: Stevia, besser gesagt das daraus gewonnene Extrakt, ist um bis zu 300-mal süßer als gewöhnlicher Zucker. Warum sich die EU mit der Zulassung des Lebensmittelzusatzes (ab Dezember) so lange Zeit gelassen hat, kann dann wohl nur an den langsamen Mühlen in Brüssel liegen. Oder an der bösen Zuckerindustrie. Denn Stevia ist auch ein Stoff, aus dem gerne Verschwörungstheorien gemacht werden.

So soll etwa bei Studien aus den 1980er-Jahren, die dem Stevia-Extrakt eine krebserregende Wirkung nachsagten, die chemische Süßstoffindustrie mitgewirkt haben. Denn die hat genauso wie die Zuckerindustrie kein Interesse an einer natürlichen, kalorienfreien Konkurrenz. Und der einzige Grund, warum das Interesse an Stevia ausgerechnet jetzt so groß ist, muss natürlich daran liegen, dass Patente für künstliche Süßstoffe langsam, aber sicher auslaufen. Außerdem, so hört man, lauert hinter Stevia ein Milliardengeschäft. Ein derart großes, dass selbst die Politik vor der Industrie in die Knie geht. Oder warum sonst hat US-Präsident Barack Obama eine „Soda-Steuer“ auf zuckerhaltige Limonaden angekündigt und eine Kampagne gegen Fettleibigkeit gestartet?


Verschwörung? „Alles Quatsch, alles Verschwörungstheorien, die von jenen aufgebracht werden, die seit zehn Jahren Stevia-Extrakt am Lebensmittelgesetz vorbei übers Internet verkaufen“, sagt Agrarwissenschaftler Udo Kienle von der Universität Hohenheim in Stuttgart. Seit rund 30 Jahren beschäftigt er sich mit der Pflanze und dem angeblichen Wunderstoff, der daraus chemisch extrahiert wird. Kienles Fazit könnte dabei so zusammengefasst werden: Stevia-Extrakt ist gut, ein Süßstoff wie jeder andere auch. Aber dass sich damit wirklich viel Geld machen lässt, kann er sich nur bedingt vorstellen.

Denn die EU, genauer gesagt die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), hat den Süßstoff nicht bedingungslos erlaubt. Der Stoff darf nur bei bestimmten Produktkategorien wie Limonaden, Marmeladen oder Kaugummi eingesetzt werden. Und der Einsatz ist nur limitiert erlaubt. Der maximale Höchstwert liegt bei vier Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht. Das ist jener Wert, bei dem der Konsum des Mittels laut Zulassungsstudie gesundheitlich unbedenklich ist.

Legt man diesen Wert auf die einzelnen Produktkategorien um – und zwar so, dass auch Kinder lebenslänglich davon konsumieren können – ergeben sich verschiedene Höchstwerte. Die EFSA errechnet diese anhand einer Datenbank, die die üblichen Verzehrmengen der einzelnen Produkte ersichtlich macht. Bei diesen Höchstwerten wiederum wird klar, dass sich Zucker nicht komplett ersetzen lässt – zumindest nicht ohne geschmackliche Einbußen. Und die wird wohl kein Hersteller in Kauf nehmen wollen. Bei einer Limonade etwa könnte somit nur ein Teil der vom Konsumenten erwarteten Süße mit Stevia-Extrakt ersetzt werden, damit sie auch für Kinder geeignet ist. Wird der Rest nicht mit Zucker oder chemischen Süßstoffen gesüßt, schmeckt das Ergebnis laut Kienle wie „eingeschlafene Füße“.


Keine Revolution. Das wissen auch die heimischen Fruchtsafthersteller. „Eine komplette Umstellung ist unrealistisch. Eine Revolution ist da sicher nicht möglich“, sagt Marie-Luise Dietrich vom Fruchtsafthersteller Pfanner. Der Grund für ihre Skepsis dem natürlichen Süßstoff gegenüber liegt vor allem im Geschmack. Denn das Stevia-Extrakt hat einen großen Nachteil, der für ein Süßungsmittel besonders fatal ist: einen bitteren Nachgeschmack. „Wir schauen uns das einmal an und testen ein bisschen. Man müsste aber mit Aromen arbeiten, die den bitteren Anis-Geschmack überdecken“, sagt auch Jutta Mittermair vom Fruchsaftmacher Spitz. Der Nachgeschmack wird auch oft mit Lakritze assoziiert. Auch Dietrich ist sich sicher: Natürlich allein reicht nicht. „Alles, was gesund ist und nicht gut schmeckt, ist nicht erfolgreich.“


Gutes und schlechtes Stevia. Für Kienle lässt sich dieses geschmackliche Manko aber beheben. „Die Bitterkeit hat mit der Art der Herstellung zu tun. Es gibt sehr gutes Steviolglycosid, das gar nicht bitter schmeckt, und auch sehr schlechtes.“ Die gute Variante hat allerdings seinen Preis. Bis zu 300 Dollar pro Kilogramm sollen die Besten im Verkauf kosten. Auch wenn man ein weniger hochwertiges Produkt verwendet – billige Varianten liegen bei 30 Dollar pro Kilogramm –, müsste sich laut Kienles Berechnungen der Preis einer Limonade um 50 Prozent erhöhen. Und das wird wohl niemand zahlen wollen.

Ganz unmöglich scheint es für Kienle allerdings nicht, dass Stevia doch noch zum großen Kassenschlager wird. „Schauen Sie sich Red Bull an. Da hätte man auch nie gedacht, dass so etwas funktioniert. Und heute bezahlen die den Formel-1-Weltmeister.“ Noch sieht es aber nicht nach einem ähnlichen Erfolg aus. „In der Schweiz wurde eine mit Stevia-Extrakt gesüßte Limonade nach ein paar Jahren wieder vom Markt genommen“, so Kienle. Auch eine in Frankreich erhältliche Stevia-Limonade, die noch rechtzeitig vor der Änderung des Lebensmittelgesetzes 2010 eingeführt wurde, ist nicht gerade erfolgreich. Bei den beiden weltweit größten Herstellern – die wie 95 Prozent der Produzenten in China angesiedelt sind – stagniert derzeit der Verkauf des Extrakts, weil es schlicht und einfach zu wenig Produkte gibt. Zumindest das könnte sich nun durch die Zulassung ändern.

Stevia rebaudiana
ist eine Pflanze aus der Familie der Korbblütler. Sie wird auch Honigkraut genannt und stammt ursprünglich aus Paraguay.

Steviolglycoside
sind aus den Blättern der Stevia-Pflanze extrahierte Süßungsmittel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Coca Cola
Österreich

Süßungsmittel Stevia bald in Österreich erhältlich

Kein Karies, keine Kalorien: Die EU hat das "Wunderkraut“ Stevia zugelassen. In den USA erobert es schon seit Jahren den Markt.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.