Die Regel ist, es gibt viele

Veilchen
VeilchenUte Woltron
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Vergeblichkeit. Der Mensch, sagt man, strebt nach Ordnung. Dem pflichten nicht alle bei, wenn es um das Zettelsortieren von Sortennamen und Steuererklärungen geht.

Ordnung ist die Verbindung des vielen nach einer Regel“, behauptete Immanuel Kant. Das war in einer anderen Zeit. Ich wollte, er könnte kurz vom Grabe auferstehen. Ich würde ihn bei seiner, wie ich sie mir vorstelle, knochig-pergamentenen Philosophenhand nehmen und sanft zu meinem Schreibtisch geleiten. Dort könnte er, so glaube ich jedenfalls, das Staunen und das Fürchten lernen und seine Ordnungsregel noch einmal gründlich überdenken. Er stünde vor der wirren Unendlichkeit von Zetteln und Belegen, vor Stapeln von Rechnungen und Honorarnoten und anderen widerlichen Papierschnitzeln, die der moderne Mensch dieser Tage dem Frühjahrsputz zu unterziehen hat: der alljährlichen Steuererklärung.

Ordnung? Wie gern! Nach einer einzigen Regel? Oh ja. Wie einfach wäre das Leben! Immanuel, so schlüge ich vor, verfüge Er sich bitte unverzüglich ins Finanzministerium. Halte Er dort eine Vorlesung. Reine Vernunft, Praktische Vernunft, Urteilskraft – all das muss in der Tat der Kritik unterzogen werden. Wo, wenn nicht dort?

Wem diese Art finanztechnischer Ordnung seit jeher ein philosophisches Rätsel blieb, wie beispielsweise mir, der flieht in solchen Momenten dankbar zu jeder sich eigentlich nicht bietenden Gelegenheit in den Garten. Das Ausmisten von Hühnerställen, das Durchwerfen von Komposthaufen und das säuberliche Anlegen schnurgerader Gemüsezeilen sind ein erbauliches Kinderspiel im Vergleich zur Berechnung der tatsächlich und nicht nur theoretisch bevorstehenden Sozialversicherungsabgabe. Im Gemüsegarten behalte ich den Überblick. Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein, würde ein Zeitgenosse Kants in solchen Momenten aufseufzen.

Abgrund an Unordnung

Doch das Sein bestimmt das Bewusstsein, um gleich noch einmal im Humus philosophischer Lehren zu wühlen, und alljährlich fällt mir unangenehmerweise in dieser Phase des Zettelsortierens eine geräumige hölzerne und mittlerweile ziemlich betagte Schatulle ein. In dieser ruhen all die Namensetiketten der Pflanzen, die ich jemals gekauft und in den Garten gesetzt habe. Die Sortenbezeichnungen von Rosen, Apfelbäumen und Blütenstauden, von Clematis und Sträuchern, von Storchschnäbeln, Ritterspornen, Wolfsmilchgewächsen und Farnen. Sie bilden darin eine Art träge verworrenes Schlangennest, bestehend aus bis zur Taille erdverkrusteten Kunststoffsteckern, vormals zwirnumsponnenen Gummifäden, die um halb strangulierte Pflanzenstängel gewundene Plastiketiketten hielten, sowie hastig auf Schmierzettel gekritzelten Notizen. Kaufe ich eine neue Pflanze, stecke ich das Etikett in diese Holzbox, wobei ich den Deckel stets nur zum kleinstmöglichen Schlitz zu öffnen pflege, damit ich nicht in den Abgrund der darinnen verwahrten Unordnung blicken muss.

Irgendwann, so war seit jeher der Plan, wollte ich dieses Chaos einer glänzenden und von ähnlichen Chaoten wie mir neidisch beäugten Ordnung zuführen. An einem dieser regnerischen, verträumten Nachmittage, an denen man nichts zu tun hat, würde ich den Sarkophag dessen, was draußen lebendig Blüten und Früchte treibt, öffnen und einem steuererklärungsartigen System zuführen. Mit Ordner, Zwischenblättern und anderen Utensilien buchhalterisch begabter Menschen. Mit schön gezeichneten Lageplänen und Nummern und Legenden. Doch erstens sind die regnerischen Nachmittage, an denen man nichts zu tun hat, gezählt. Zweitens kann man sie, wie ich wiederholt unter Beweis stellen durfte, genauso gut, oder eigentlich viel besser, mit einem Buch in der Hand auf dem Sofa liegend, Tee trinkend und den Herrgott einen guten Mann sein lassend vertrödeln.

Wachset und gedeihet!

Wenn dann die Sonne wieder hervorkommt, gibt es nichts Willkommeneres, als sofort wieder in den Garten zu eilen. Wie herrlich ist hier die Ordnung, die dann entsteht, wenn man Regeln aufstellt, die sowieso naturgemäß eingehalten werden: Wachset und gedeihet, vermehret euch, blühet, traget Frucht, lasset mich daran teilhaben. „Jedes Ding hat hundert Glieder und hundert Gesichter“, beschwichtigt Michel de Montaigne jeden Ehrgeiz, alles durchblicken zu wollen. Ach, wie recht hat er doch in allem, was er sagt, und zugleich gibt er mir immer wieder die tröstliche Kraft, beharrlich auch weiterhin an eine mögliche Zukunft von Ordnung in Sachen Finanzbescheiden und Holzschatullen und allem anderen zu glauben: Es ist eigentlich nie möglich, genau zu sagen, wann wir am Ende unserer Hoffnung sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2014)

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