Der mühsame Kampf gegen die Kinderlähmung

Seit 1988 versucht man, Polio auszurotten. Aber trotz eindrucksvoller Erfolge will und will das Werk nicht gelingen.

Letzte Woche, am 24. Oktober, war Welt-Polio-Tag. An den meisten Menschen ist er einfach vorbeigegangen, und für die wenigen, die er betrifft, war es einmal mehr ein Trauertag. Denn es gibt immer noch Infektionen, 170 dieses Jahr allein. Das sind weniger als die 467 neuen Fälle vom Vorjahr, und das klingt ohnehin nach nichts. Aber es darf keinen einzigen mehr geben, wenn das Werk gelingen soll, das 1988 unter Federführung der Weltgesundheitsorganisation WHO begonnen wurde: die Ausrottung der Krankheit durch eine weltweite Impfkampagne.

Damals war man zuversichtlich: 1980 war erstmals eine der großen Plagen ausgerottet worden, die Pocken. Dazu musste die gesamte Menschheit geimpft werden. Es gelang, und seitdem wird gegen Pocken nicht mehr geimpft. Warum sollte es anders sein bei dem Virus, das durch den Mund aufgenommen und mit dem Stuhl wieder abgegeben wird, und das bei einem Drittel der Infizierten zu Lähmungen unterschiedlichen Grades führt, im Extremfall zu Paralyse, bei der die Betroffenen nur noch mit künstlichen Lungen leben können.

Präsident Roosevelt hatte Polio. Bilder dieser Patienten prägten die USA in den 1950er-Jahren, Polio war damals die gefürchtetste Infektionskrankheit der Industrieländer, auch US-Präsident Roosevelt litt daran. 1955 entwickelte Jonas Salk den ersten Impfstoff – Salk wurde im Oktober geboren, deshalb begeht man den Welt-Polio-Tag im Oktober. Dieser Impfstoff besteht aus getöteten Viren und ist dadurch absolut sicher; aber er muss gespritzt werden. Für Massenimpfungen geeigneter ist ein zweiter Impfstoff, Albert Sabin entwickelte ihn 1961: Er wird einfach geschluckt. Aber er besteht aus nur geschwächten Viren, sie können wieder aktiv werden, selten, bei einer von 2,5 bis sechs Millionen Dosen.

So kehrte die Krankheit etwa 2000 wieder nach Haiti und Santo Domingo zurück. Es war eine besonders böse Ironie, das Jahr 2000 war das Zieljahr der WHO: Die Polio hätte ausgerottet sein sollen. Also verschob man das Datum, wieder und wieder, aber 170 Menschen sind eben infiziert, und ein einziger könnte die gesamte Menschheit infizieren, wenn sie einmal nicht mehr geimpft würde wie bei den Pocken.

Warum geht es so zäh? Zum einen liegt es an der Krankheit, sie ist versteckter als Pocken, nicht so eindeutig zu diagnostizieren, Infizierte können das Virus unbemerkt verbreiten. Zum anderen liegt es an Kriegen und Fanatikern. Die 170 Infizierten leben vor allem in drei Ländern: Afghanistan, Pakistan, Nigeria. In Nigeria ist die Lage besonders dramatisch, seit Eiferer 2004 einen Polio-Impfboykott starteten: Der Impfstoff sei vergiftet, mit HIV. Das Ergebnis war eine neue Ausbreitung in 20 schon poliofreien Ländern. Kriege und Bürgerkriege verhinderten allerdings nicht, dass im Vorjahr die Ausrottung einer zweiten Plage gefeiert werden konnte, die einer Tierkrankheit: der Rinderpest. Auch dafür mussten die Impftrupps in Kriegsgebiete, sie handelten Waffenstillstände aus und setzten auf heimische Helfer.

Irgendetwas läuft also schief bei der Polio-Ausrottung. Und interne Kritik wird laut, vor allem seitens der Arbeitsgruppe, die die Bemühungen der gesamten „Global Polio Eradication Initiative“ (GPEI) analysiert und bewertet: Zwar habe man Polio von einst 350.000 Fällen um 99 Prozent reduziert, aber für den Rest – er kostet eine Milliarde Dollar im Jahr – gebe es zu wenig neue Ideen, und eine Bürokratie, die alles zu Tode erdrücke (Science 3.8.).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2012)

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