Masern zurück: Deutschland wird der Krankheit nicht Herr

Masern zurueck Deutschland wird
Masern zurueck Deutschland wird(c) Erwin Wodicka - wodicka@aon.at (Erwin Wodicka)
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Weil es noch immer große Impflücken gibt, breiten sich die Viren erneut aus. Kommt nun der Zwang zur Spritze?

Berlin/Gau. Mit Schnupfen und Husten fängt es an. Dann setzt hohes Fieber ein. Und schließlich lassen die roten Flecken am ganzen Körper keine Zweifel mehr zu: Es sind die Masern. Eine hoch ansteckende Virusinfektion, an der 2011 laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) 158.000 Menschen gestorben sind. Jedes Jahr infizieren sich 20 bis 40 Millionen Menschen mit dem Virus, die Tendenz ist wieder steigend. Das Ziel, die Seuche bis zum Jahr 2015 auszurotten, rückt in die Ferne – auch in Deutschland.

Die Faustregel der WHO: Wo es auf eine Million Einwohner pro Jahr nur eine Erkrankung gibt, gelten die Masern als besiegt. Auf dem amerikanischen Kontinent und in Skandinavien ist das gelungen. Dort kann sich das – meist importierte – Virus nur auf wenige Wirte ausbreiten und wird dann rasch gestoppt. Für Deutschland läge die Grenze bei 80 Fällen pro Jahr. Im Vorjahr kam man mit 170 Erkrankungen erstmals nahe dran. Doch die Hoffnung ist verflogen: Allein im ersten Halbjahr gab es über 1000 Neuerkrankungen. Vor allem in Berlin und München geht die Angst um, nach Ausbrüchen mit mehreren hundert Masern-Kranken.

Nur 37Prozent impfen zur richtigen Zeit

Die Gründe für das Comeback sind rasch erklärt. Die Masern werden oft als „Kinderkrankheit“ verharmlost. Dabei kommt nicht selten eine Lungenentzündung dazu, was in Entwicklungsländern oft zum Tod führt. Sehr selten, aber umso dramatischer ist eine Gehirnentzündung, die Jahre nach der Infektion zum Verlust aller Geistesgaben führt und im Wachkoma mündet – unheilbar und mit Sicherheit tödlich.

Aber eine Krankheit, für die es schon so lange eine Impfung gibt, verliert anscheinend ihren Schrecken. Ein Irrtum: Zwar haben unter deutschen Schulanfängern wieder annähernd 95Prozent, wie es die WHO fordert, die gebotenen zwei Spritzen bekommen. Doch wie eine aktuelle Studie nun herausgefunden hat, erfolgt die Masern-Mumps-Röteln-Kombinationsimpfung nur zu 37Prozent in den optimalen, von der deutschen Impfkommission empfohlenen Zeiträumen (im Alter zwischen elf und 14 Monaten sowie zwischen 15 und 23 Monaten). Vor allem aber war die Abdeckung lange niedriger. Dadurch gibt es unter den nach 1970 Geborenen viele Impflücken, durch die sich das Virus seinen Weg bahnt. Die häufigsten Opfer sind deshalb junge Erwachsene. An sie ergeht nun der Appell zur Nachimpfung. Denn sie sind auch eine Gefahrenquelle für noch nicht geimpfte Babys. Auch wenn Infizierte während der Inkubationszeit in Länder mit einem weniger gut ausgebauten Gesundheitssystem reisen, kann das schlimme Folgen haben. Vor vier Jahren brachte eine einzige Person die Masern von Deutschland nach Bulgarien. 24.000 Menschen erkrankten, 24 starben.

Große Mehrheit für Impfpflicht

Warum aber lassen Eltern ihre Kinder nicht impfen? Neben „Muffeln“ gibt es bewusste Verweigerer – meist aus durchaus bürgerlichem Milieu. Sie lassen sich von Naturheilpraktikern oder Homöopathen gern einreden, die Impfung hätte schlimme Nebenwirkungen, oder von Anthroposophen, die Kinderkrankheiten seien für die Kleinen eine bereichernde Erfahrung. So kommt es gerade in Waldorfschulen immer wieder zu Masernausbrüchen.

Wozu falsche Informationen führen können, zeigt sich in Großbritannien: Als dort 1998 ein Forscher öffentlich suggerierte, die Masernimpfung könnte zu Autismus führen, fiel die Impfrate von 90 auf 54Prozent. Die Studie ist längst als methodisch mangelhaft entkräftet. Aber das Vereinigte Königreich hat so viele Masernfälle wie sonst in Europa nur das arme Rumänien. Das alles ruft die Politik auf den Plan. Der deutsche Gesundheitsminister, Daniel Bahr (FDP), will besser informieren, überlegt aber auch härtere Maßnahmen: nicht geimpfte Kinder bei einem Masernausbruch nicht mehr in die Schule lassen, den Impfcheck in den Kindergarten vorverlegen – oder, als „letzte Notlösung“, eine Impfpflicht.

Vier von fünf Deutschen sind dafür, verfassungsrechtlich gedeckt wäre sie auch (das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, das jeden Bürger vor unerwünschten Behandlungen schützt, wird durch das Infektionsschutzgesetz eingeschränkt). Aber eine Pflicht könnte Impfgegner auf die Barrikaden treiben – und latente Widerstände in der Bevölkerung erst richtig wecken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2013)

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