Die Baukunst hat ihre Kunst verlernt

Baukunst ihre Kunst verlernt
Baukunst ihre Kunst verlernt(c) www.BilderBox.com (www.BilderBox.com)
  • Drucken

Öde, lieblos, kunstlos – so sehen manche Kritiker die Architektur der Gegenwart. Statt der Baukulturverpflichten sich viele Architekten eher den streng kalkulierten Interessen der Investoren. Das hat Folgen, die nicht nur dem Auge wehtun.

Dagegen ist keiner immun: Häuser und Bauwerke wirken immer. Sie lenken uns durch die Räume und das Leben in ihnen, lassen uns gehen, stolpern, ankommen, immer wieder zurückkehren und irgendwann auch bleiben. Und nebenher produziert Architektur auch munter Kollateralschäden – ästhetische, soziale und sogar physiologische. Bei allen gleichermaßen und bei jedem Einzelnen ganz individuell. Architektur kann ganz schön stumm, ohnmächtig, ratlos machen. Weil die Architektur in den letzten Jahren vor allem eines bewiesen hat: das, wozu sie scheinbar nicht mehr imstande ist. Holger Reiners, ein deutscher Architekt und Buchautor behauptet das. So vehement, dass er sogar im Titel seines aktuellen Buches die Frage stellt: „Brauchen wir noch Architekten?“ Nein, sagt er. Wenn sie so bauen, wie sie heute bauen. Andere dagegen hätte die Gesellschaft bitter nötig: Jene, die sich nicht gängeln und instrumentalisieren lassen von Investoren und Interessen, die nicht weiter reichen als bis zur eigenen Haustür.

Auch in Österreich hört man Stimmen, zwar nicht empört aufschreien, dafür konsequent flüstern: etwa von „Baukultur, um die es so schlecht steht wie nie“. Doch diese Stimmen werden lauter: in verschiedenen Institutionen, Jurys und Publikationen. Auch Roland Gnaiger, Leiter der Studienrichtung Architektur an der Kunstuniversität Linz, setzt seine Stimme ein: Im Beirat für Baukultur etwa, oder auch als Juryvorsitzender des Landluft-Baukulturgemeindepreises und des Staatspreises für Architektur und Nachhaltigkeit.


Spürbare Veränderung. Architektur hat keinen On-off-Knopf, keinen Vorhang, der zufällt, wenn's vorbei ist. Einfach vorbeigehen nützt genauso wenig: „Man kann sich der Architektur eben nicht entziehen“, sagt Holger Reiners. Sie ist stets spürbar, löst immer Gefühle aus. Wie jede gebaute Struktur. Und natürlich empfinden auch Architekten selbst, was Architektur vermag, wenn sie schließlich versagt: Sie kann richtig wehtun. Im Auge sowieso. Aber noch tiefer drin, im Herzen. Auch Roland Gnaiger hat sie verletzt. Das schreibt er selbst, im Vorwort für den Landluft-Baukulturgemeindepreis, das sich an seine Studenten richtet: „Mein Engagement für das Land und seine Dörfer erwuchs aus einer Verletzung.“ Zugefügt hat sie ihm die Architektur und die Ignoranz, die sie leitet, während die Räume seiner Kindheit allmählich verlöschen. Und damit auch die Atmosphäre, die Blickbezüge, die Bilder, die räumliche Komplexität, mit der er aufgewachsen ist. „Für jemanden, der gewohnt ist, in Räumen und Strukturen zu denken, ist diese Realität tatsächlich schmerzhaft“, sagt Gnaiger. Und dort, wo Dörfer versuchen, irgendwie urban zu sein und dort, wo die Städte allmählich zum Land ausfließen, in den Gewerbegebieten rund um die Kreisverkehre, dort tut es am meisten weh: „Wenn man diese Situation betrachtet, behaupte ich, dass in der Menschheitsgeschichte das baukulturelle Niveau noch nie so niedrig war wie heute“, sagt Gnaiger.

Lange bevor die Supermärkte die Baumalleen in Gnaigers Vorarlberger Heimatort verdrängten, hatte sich die Architektur schon in den kühlen Minimalismus der Moderne verirrt, meint Wilhelm Kücker in seinem Buch „Das Ego des Architekten“. Seitdem produziert das, was früher Baukunst hieß, mehr Tristesse als Lebensfreude. Zu überheblich, zu selbstverliebt, zu „mega“ und zu mächtig stehen die Bauwerke da. Und ratlos die Menschen vor ihnen. Dabei sprechen die Häuser doch ganz unmissverständlich zu ihnen, ohne es zu wollen. Etwa davon „wie die Unternehmen, die die Häuser beherbergen, ihre Arbeitskräfte sehen“, schreibt Paul Goldberger, Architekturkritiker des „New Yorker“. Und noch mehr verraten die Bauwerke: „Ihre Kunstlosigkeit erzählt genau so viel wie das Design von Paris oder Rom über ihre Kulturen erzählt.“

Ausdrucksschwäche. Und diese Kunstlosigkeit, diese Lieblosigkeit, sie wirft Reiners den zeitgenössischen Architekten vor allem vor: „Wir haben scheinbar Architekten, die mit sadistischem Vergnügen die Menschen mit ihrem Minimalismus quälen wollen.“

Die „Texte“, die Architekten in Beton, Stahl und Glas abliefern, langweilen. Umso mehr wollen die Architekten Banales in ihren Begleittexten hochstilisieren: In den Eröffnungsreden stülpen sie Worthülsen über architektonische Beliebigkeit, sehen Dinge, die nur sie selbst sehen können, ganze Stadttore, Brücken, „Dialoge“ und „sensible Beziehungen“, die ihre Häuser plötzlich mit der Umgebung eingehen. „Es gibt nirgendwo so viele verlogene Formulierungen wie in der Architektur“, meint Reiners.

Die meisten Bauwerke der Gegenwart funktionieren ganz unpoetisch, so wie Waschmaschinen eben waschen und Staubsauger ihre Arbeit tun. „Langweilig und blutleer“, nennt Reiners das, was die meisten Architekten heute produzieren. Kunstfertigkeit demonstrieren sie nicht, dafür die Willfährigkeit eines Berufsstandes. Statt Bewunderung lösen die Gebäude kühle Distanz aus, statt Stolz Empörung. Wie bei Reiners: „Man muss es den Architekten schon moralisch ankreiden.“ Denn die Werte, die sie bauen, machen sich nur schön in den Bilanzen der Investoren. „Die Investoren sind an baukultureller Nachhaltigkeit aber gar nicht interessiert. Und die Architekten beugen sich zu schnell.“

Für Reiners sind sie Handlanger, Diener kühler Kalkulation, Kollaborateure der gleichförmigen Tristesse, die die Landschaft überzieht. „Alles, was neu gebaut wird, reicht nicht annähernd an die Werte unserer Altstädte heran“, sagt Reiners. Dass die Wertschätzung vieler Bauten noch mit der Zeit oder dem passenden Zeitgeist kommt, auch das glaubt Reiners nicht – keine Chance auf eine wechselvolle Rezeptionsgeschichte, wie sie etwa schon Romane und Symphonien erlebt haben. „Der optische Informationsgehalt und die Symbolik der Neubauten sind einfach zu dürftig.“ Reiners vermisst die handwerkliche Raffinesse. Und den Einsatz von Materialien, die überhaupt imstande wären, die uninspirierten Konzepte, die sie einfassen, würdevoll zu überleben.

Natürlich sei es schwierig, kollektiv über „die Architekten“ zu sprechen, sagt Roland Gnaiger. Zu differenziert sei die Berufsgruppe. Aber doch: „Es gibt zuhauf Architekten, die sich von Investoren und ihren Interessen instrumentalisieren lassen.“

Stars und Spitzen. Die „Spitzenarchitektur“ hat sich längst in ihr eigenes Abbild in Blogs und Magazinen verliebt, abgehoben vom Alltag und von jeglicher baukultureller Bodenhaftung. In ihrer eigenen Blase hat sie sich verselbstständigt und ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten geschaffen: „Die Spitzenarchitektur reduziert sich vielfach auf Bilder, die schnell und einfach kommunizierbar sind“, sagt Gnaiger. Begehbare Zeichen entstehen da, die ein kritischer Blick schnell zu entzaubern vermag. „Die Stararchitekten beschränken sich oft einfach auf symbolische Formen.“ Oder auch auf „Gags“, wie Reiners sie nennt, die gar nicht erst so weit kommen, symbolisch wirken zu können. „In Fachkreisen sind Namen wie Zaha Hadid ohnehin extrem umstritten.“ Jene Architekten, die ikonisch bauen, um der Ikone zu dienen, die sie selbst sind.

Auch in Innsbruck sind solche architektonischen Zeichen inzwischen recht zahlreich. Georg Pendl, Präsident der Bundeskammer der Architekten und Ingenieure, hat dort sein Architekturbüro. Die Stadt sonnt sich recht genüsslich im Renommee einer Zaha Hadid und eines David Chipperfield. Doch gerade im Schatten der Stars gedeiht die lokale Architekturszene prächtig, wie Pendl meint: „Das Land hat eine phänomenale Entwicklung genommen. Und es ist durchaus ein baukultureller Wert, dass wir in Österreich viele verschiedene Szenen haben. Wie in Tirol, Vorarlberg oder der Steiermark etwa.“ Das Buch von Holger Reiners hat Pendl gelesen. „Als empörten Aufschrei finde ich es ganz gut“, sagt er, „viele Dinge sieht der Autor schon ganz richtig.“ Aber längst nicht alle. Und über 180 Seiten hätte ihn der immer gleiche Tenor des Aufschreis dann doch fast so gelangweilt wie die gegenwärtige Architektur den Autor.


Baukultur in Österreich. Jedes Theaterstück, das zwei Stunden dauert, wird ausgiebig in den Medien besprochen, sagt Gnaiger. Jede Buchneuerscheinung ausführlich rezensiert. Architektur hingegen, die unausweichliche Kunst mit der unausweichlichen Wirkung war „Jahrzehnte nicht Thema eines öffentlichen Diskurses“. Heute sei das anders. „Die gesellschaftliche Bedeutung der Architektur hat in Österreich in den letzten Jahrzehnten doch stark zugenommen.“ Und schließlich zu einer Situation geführt, um „die uns Deutschland beneidet“, zu einer stattlichen Zahl an Foren, Institutionen, Zentren, Theoretikern und Gremien, die sich mit Architektur befassen.

Doch Gesellschaft und Architektenschaft denken und reden in ihren Parallelwelten noch immer aneinander vorbei. „Die Architektur hat sich in eine eigene Welt verabschiedet“, sagt Gnaiger. Und hinüber in jene der Laien führen kaum Schleusen: Die Fachwelt betrachtet ihr Fach intellektuell. Die Laien erfahren die gebaute Umwelt emotional. „Und solange sich die beiden Bereiche, der emotionale und der intellektuelle nicht begegnen, bleiben auch Architektur und Gesellschaft in ihren Sphären“, sagt Gnaiger. „Die meisten Architekten haben ein unterentwickeltes Sensorium für die emotionalen Qualitäten von Architektur.“ Doch Architekten, die Gefühle zulassen, werden mehr, meint Gnaiger. Und nennt etwa Peter Zumthor, Eduardo Souto de Moura oder auch das Studio Mumbai.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.