„Der Geist von Deutschland 1939“: Morrissey verstört die Briten

(c) AP (Dan Balilty)
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Sänger Morrissey lästert über die Olympischen Spiele in London, deren Geist ihn an Deutschland vor Beginn des Zweiten Weltkriegs erinnert. In den britischen Medien entfesselte er einen kleinen Sturm der Entrüstung.

Sie gewinnen reihenweise Medaillen, sie jubeln, sie feiern, sie sind geradezu euphorisch, kurz gesagt: Die Briten verhalten sich derzeit völlig uncharakteristisch. Nur einer bleibt sich treu: Morrissey. Der ehemalige Frontmann der „Smiths“, der in den 80ern mit vertontem pubertärem Weltschmerz den Soundtrack einer Generation prägte, kann den ganzen Rummel nicht ertragen: „Ich kann mir Olympia nicht anschauen, wegen des ganzen angeberischen Hurra-Patriotismus, in den die Spiele getränkt sind. War England jemals so widerlich patriotisch?“, so der Musiker (53) in einem „Statement“ für sein Online-Fanmagazin „True to You.“

Besonders die Dauerberichterstattung über Auftritte von Mitgliedern der Königsfamilie (die Queen spielte bei der Eröffnung mit, Enkelin Zara gewann mit den Vielseitigkeitsreitern eine Silbermedaille, Kate, William und Harry scheinen sich kaum einen Wettkampf entgehen zu lassen) bringen den bekennenden Republikaner in Rage: Die „strahlenden Royals“ würden die Spiele für ihre „empirischen“ (gemeint war wohl „imperial“, sprich „kaiserlichen“) Bedürfnisse missbrauchen, „und in der freien Presse sind keine kritischen Stimmen erlaubt. Es ist tödlich, das anzuschauen.“ London werde als „Marke für die Superreichen“ angepriesen, während der Rest des Landes unter Kürzungen und dem „wirtschaftlichen Desaster“ leide. In seiner Heimat, so sein Fazit, wehe der „Geist von Deutschland 1939“.

In den britischen Medien entfesselte Morrissey, der mit Songs wie „Heaven knows I'm miserable now“ („Der Himmel weiß, mir ist elend“) und „Bigmouth strikes again“ („Der Sprücheklopfer schlägt wieder zu“) immer noch Konzertsäle zum Mitheulen bringt, einen kleinen Sturm der Entrüstung: „Miserable Muppet“ („Schlechtlauniger Blödmann“) schrieb die „Sun“, die „Mail Online“ listete genüsslich seine bisherigen rhetorischen Querschläger auf, der „Telegraph“ kürte ihn zum „vorhersehbarsten Provokateur der Popgeschichte“, ein Twitter-Nutzer fragte, wovon Morrissey wohl weniger Ahnung habe: von Großbritannien oder Nazi-Deutschland. Ein weiterer empfahl ihm, „endlich die Klappe zu halten“.

Sogar Politiker mischten sich in die Debatte ein: „Morrissey liegt völlig daneben“, so Nigel Farage, Chef der europafeindlichen „UK Independent Party“. „London 2012 hat uns nur ein neues nationales Selbstbewusstsein gebracht und das ist gut so.“ Die Labour-Abgeordnete Kerry McCarty erklärte: „Morrissey klammert sich derzeit doch nur an Strohhalme, um noch etwas Aufmerksamkeit zu bekommen – wenn er beispielsweise seine Bandmitglieder in Argentinien ein T-Shirt mit der Aufschrift ,Wir hassen Kate und Will‘ tragen lässt.“ Nur wenige Kommentatoren fragten, ob Morrissey mit seiner Medienschelte nicht auch ein bisschen recht haben könnte.

Morrissey macht schon seit Jahren mehr Schlagzeilen mit seinen Verbalattacken als mit seiner Musik: So verglich er die Queen anlässlich ihres historischen Irland-Besuchs im vergangenen Jahr mit Libyens Exdiktator Muammar al-Gaddafi. Der überzeugte Vegetarier und Tierschützer bezeichnete die Chinesen wegen ihres Umgangs mit Tieren als „Subspezies“ und erklärte, schlimmer als das Attentat von Norwegen vor einem Jahr sei, „was sich täglich bei McDonald's oder Kentucky Fried Chicken abspielt“.

Grund seines Furors diesmal ist womöglich verletzte Eitelkeit: Bei der Olympia-Eröffnungsfeier verzichtete Regisseur Danny Boyle auf Musik von Morrissey – obwohl von den Beatles über die Eurythmics, The Who, The Prodigy, Amy Winehouse und sogar One-Hit-Wonder Frankie goes to Hollywood alles, was bekannt und britisch ist, zu hören war. „Vielleicht ist euch aufgefallen, dass ich nicht zur Eröffnungsfeier eingeladen war“, so Morrissey vergangene Woche beim Abschlusskonzert seiner Europatournee in seiner Heimatstadt Manchester: „Das liegt daran, dass mein Lächeln zu ehrlich ist.“

Zur Person

Morrissey (geb. 22. Mai 1959) wurde als Sänger der britischen Band The Smiths („Heaven Knows I'm Miserable Now“) bekannt, die als Vorläufer des Indie-Rock gelten – vom Musikmagazin „NME“ wurden sie 2004 zum „Most Influential Artist Ever“ gekürt. Nach der Auflösung der Band im Jahr 1987 startete der Sänger eine Solokarriere („Everyday Is Like Sunday“). Zuletzt ließ Morrissey vor allem mit provokanten Aussagen in Interviews aufhorchen, besonders gerne schimpft er über das britische Königshaus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2012)

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