Klettersteig: Fesch und furchtlos in die Berge

Fesch furchtlos Berge
Fesch furchtlos Berge(c) Erwin Wodicka - wodicka@aon.at (Erwin Wodicka)
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In lichten Höhen begegnen einander Bergsportler mit wenigen Berührungspunkten, aber oft ähnlichen Motiven: Es geht um und an die Grenzen – und manchmal schief.

Motiviert steigt der Kletterer in die Wand ein. Der Klettergurt sitzt gut. Die Schuhe haben beste Haftung auf dem glatten Gestein. Der eine Kamerad ist vorausgestiegen, hinten schließt der andere gut auf. 100 Höhenmeter sind absolviert. Eine Querung, eine Kante, ein leichter Überhang sollten jetzt kein Problem sein.

Auf der Stirn bilden sich die ersten Schweißperlen, plötzlich lässt die Kraft nach, die Beine sind zu müde, um den Körper weiter durch die Wand zu schleppen. Die Ratlosigkeit steigt, wie man den Aussetzer den Kumpels beibringen soll, denn die lang geplante Tour wäre hier zu Ende. Doch bald überwiegt die Angst, gefolgt von Panik. „Man blockiert, kommt nicht mehr nach vorn, nicht mehr zurück. Der Sportler ist im Klettersteig gefangen“, sagt Gerhard Mössmer vom Referat Bergsport des Österreichischen Alpenvereins in Innsbruck: „Blockieren“ sei eine klassische Situation für Rettungseinsätze am Berg, nicht gleich der Absturz. Mit etwas Glück kann der Freizeitsportler unversehrt herausgeholt werden.

Früher höhnte man über Halbschuhtouristen, die wie Störche in hochalpinem Gelände herumstaksten. Ausrutscher von Handtaschenträgerinnen im Gebirge schafften es mitunter bis in die Nachrichten. Den Vorwurf der unzulänglichen Ausrüstung muss sich ein „blockierter“ Kletterer und Bergwanderer heute nicht mehr machen. Aber durchaus, so Mössmer, den der falschen – und nennt als ein Beispiel den ermüdend schweren Rucksack, eben gerade weil beim Packen an alle Eventualitäten gedacht wurde. Nur nicht daran, dass man in eine Situation geraten könnte, in der man nicht mehr in der Lage ist, den Ballast am Rücken auch zu tragen.


Alpines und Lifestyle. „Die Ausrüstung der Bergsportler ist heute meistens sehr gut. Das liegt auch am Markt“, meint Mössmer. In den vergangenen Jahren hat sich der Style in den Alpen verändert, die Jacken und Hosen wurden schicker, schnittiger, bunter, sie näherten sich der Streetwear an. Es geht auch ums Image. Zudem vermittelt das Outfit dem Laien ein Stück weit alpine Kompetenz – Trekkingschuhe und Funktionshemd stehen quasi für die Tat. Als sei mit dem Tragen schon der halbe Aufstieg erledigt. Zugleich schürten die Outdoor-Labels mit immer trendigeren Kollektionen die Lust am Berg, ließen diese mit Models, oft wirklichen Alpinsportlern, an coolen exponierten Orten shooten. Die textilen Erfindungen wurden smalltalktauglich, auch unter alpinen Spaziergängern. Schließlich erlebte der Sportartikelhandel in Zeiten des wirtschaftskrisenbedingten Fernreiseverzichts 2008/2009 einen Zulauf, von dem andere Branchen nur träumen konnten. Wenn schon kein Strandurlaub, dann wenigstens die Investition in Teleskopstöcke, Drei-Layer-Jacke, Biwaksack. Die Apps mit den GPS-Daten zu den Routen, den Tipps für die Hütten und der Wetterbericht waren schnell heruntergeladen, der Wander- und Kletterurlaub gleich gebucht.

Der Österreicher entdeckte – keineswegs nur aus Sparsinn, sondern im Zuge einer allgemeinen Renaissance von Bergkultur, Landlust und Hüttenwesen – die Höhenmeter vor der Haustür. Der Run auf Almen, Felswände und Gipfel brachte Touristiker und Alpinsportvereine dazu, Weitwanderwege zu erschließen, Aussichtsplattformen über Abgründe zu bauen, Hängebrücken über tiefe Täler zu spannen und das Netz von Klettersteigen massiv auszubauen. Momentan zählt man auf österreichischem Terrain über 500 Klettersteige. Jedes Jahr entstehen an die 25 neue.

Auf den neugierigen Konsumenten wirkt das verlockend, weil sich ihm plötzlich Gebiete erschließen, die ihm früher unzugänglich waren beziehungsweise er sich dorthin mühsam vorarbeiten musste. Oder sind die Leute einfach nur mutiger geworden, weniger von Höhenangst und Schwindel gepeinigt, wenn sie so locker auf einem Felsabsatz stehen und durch Hochseilgärten steigen? „Der Kletterer glaubt, durch das Seil sicher zu sein. Er sucht das Abenteuer, aber ein vermeintlich sicheres“, erklärt der ÖAV-Experte. Die Sicherheit wird an die Ausstattung delegiert, das verleite manche zum Experimentieren. „Man wagt sich in Gelände vor, das man dann nicht mehr bewältigt.“

Gruppen am Berg. Wie viele Furchtlose im felsdurchsetzten Gebiet unterwegs sind, kann nur geschätzt werden. Aus der Unfallstatistik, plus/minus 300 Menschen pro Jahr, lässt sich aber die Zielgruppe genauer ablesen: Die Klientel der Klettersteige ist älter, gesetzter als jene, die sich in den Kletterhallen, den Outdoorparks oder beim Bouldern in der Stadt verletzt. Wie überhaupt am Berg heute die unterschiedlichsten Zielgruppen aufeinandertreffen, die oft kaum Berührungspunkte haben: Da ist neben dem Einsteiger-Kletterer nämlich auch – mit fast 200-jähriger Tradition – der hochalpine Bergsteiger, der den Gipfel zur Expedition macht, lange plant und sich intensiv mit den Gegebenheiten in der Natur auseinandersetzt. Oder der Freestyle-Climber, der jünger ist, den Trends folgt, sich von Extremvideos leiten lässt und sich schillernde Identifikationsfiguren aus der Sportkletterszene sucht. Letzterer ist (im Winter) dem Freerider verwandter als dem Skitourengeher, auf dem Bike dem Downhiller näher als dem Rennradler.

In die ganze Riege fügen sich noch Sportler mit ganz unterschiedlichen Motiven – nicht Naturgenuss, sondern Leistung: Schnelligkeit zählt für den Bergläufer, der in kürzester Zeit hunderte Höhenmeter absolvieren will. Ausdauer für den Extremwanderer, der an 24-Stunden-Märschen teilnimmt und bei Wind und Wetter so lange mitgeht, bis er nicht mehr kann. So sucht jeder am Berg nicht nur sein Seelenheil, sondern auch seine ganz persönliche Grenzerfahrung. In Wellen schwappt dann der eine oder andere Hype über die Berge hinweg, bis er schnell im Mainstream mündet: So ist es in den vergangenen Jahren eben mit dem Klettern geschehen, das von einer jungen, wilden, mutigen Generation in einer Nische kultiviert wurde.


Kräfte und Kopfsache. „Man kann in einen Berg nicht hineinschauen“, sagt Gilbert Soukopf. Der Ötztaler kennt sehr viele davon, ist ein erfahrener Alpinist, ausgebildeter Bergführer – und Schlagersänger. In den Bergen holt er sich „Kraft für die Bühne“, er gehe regelmäßig klettern, um „zu entschleunigen“. Immer wieder war er mit Gruppen unterwegs, auch in brenzligen Situationen. Ängste? „Die begegnen einem in den Bergen ständig.“ Und wenn es eng wird, „werden Kräfte frei, von denen wir nichts ahnen. Man reduziert sich ganz schnell auf ein Minimum.“ Man brauche einen starken Kopf, um nicht in Panik zu verfallen.

Viele Faktoren kann der hochalpine Kletterer ausschalten, etwa nicht loszumarschieren, wenn ein Wettersturz bevorsteht. Oder allein unterwegs zu sein, wie jener Schweizer Sologänger, den Gilberts Seilschaft am Matterhorn vor herabstürzenden Steinbrocken in Sicherheit brachte. Heute müssen sich die Menschen in den Bergen mit anderen Gefahren auseinandersetzen als früher: „Der Permafrost ist weit nach oben gegangen. Dadurch wird das Gestein locker, es kommt in Höhen zu Steinschlag, in denen man das nicht erwartet.“ Das hat auch für die Tourenvorbereitung Folgen: „Manche Routen existieren nicht mehr.“ Vor zwanzig Jahren sei er noch auf dem Bonattipfeiler gewesen. Ein Bergsturz war das Ende für den legendären Berg.

Menschliches Versagen ist nicht immer im Spiel. Oft sind Bergsteiger zur falschen Zeit am falschen Ort. In der Gruppe der Alpinunfälle rangieren die hochalpinen aber zahlenmäßig weit unten.

Die am meisten gefährdete Spezies am Berg ist jene, von der man es nicht vermuten möchte: Hinter dem Wanderer liegt der Gipfel schon weit zurück. Bald erreicht er die Baumgrenze. Nur ein paar Serpentinen noch, dann wird der schmale Steig in einen breiteren münden. Vier Stunden hat der Weg auf den Zweitausender gedauert. Hinunter müsste er in zweieinhalb Stunden zu schaffen sein. Ein wenig müde trottet der Wanderer dahin. Der Panoramablick lenkt ihn vom Boden ab. Ein Steinbrocken, er stolpert, fällt, hört die Bänder schnalzen. Vergleichsweise glimpflich.

55 Prozent der Todesfälle am Berg seien heuer durch Stolpern und Ausrutschen ausgelöst, präsentierte Karl Gabl vom Kuratorium für Alpine Sicherheit kürzlich in Innsbruck die Zahlen. Zur Unachtsamkeit gesellen sich Unerfahrenheit und mangelnde Tourenplanung. „Es scheint, als bewege man sich im alpinen Gelände nicht mehr vernünftig“, sagt Gabl.

Aber was heißt schon vernünftig – zum schöneren Scheitern soll halt auch die Optik passen: das Longsleeve in Retrolook, die Hose mit dem Auskennerlogo, die Headware vom Nischenanbieter, die Trinkflasche...

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.09.2012)

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