Die Geschichte der Gita K.

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

Gita Kaufman, 1940 von den Nazis aus Wien vertrieben, hat für eine Doku über ihre Familie die halbe Republik interviewt, von Jörg Haider über Franz Vranitzky bis Kurt Waldheim.

Diese Geschichte kann an vielen Orten beginnen: in Wien, in Grebkow, in London, in Auschwitz oder auch in der Upper West Side. Lassen wir sie in New York anfangen, Mitte der 1980er-Jahre. Nach dem Tod ihrer Mutter findet Gita Kaufman in einer Truhe eine Schuhschachtel voller vergilbter Briefe und Fotos. Es sind Schreiben ihrer jüdischen Verwandten aus den Jahren zwischen 1938 und 1940. Und sie kreisen alle nur um ein Thema: um die Flucht vor den Nazis.

Gita Kaufman ist atemlos vor Aufregung. Sie eilt die Treppe hinauf zu einem Nachbarn, der besser Deutsch versteht als sie: zu John Renner, einem Enkel des österreichischen Staatspräsidenten. Er war mit seiner Frau, einer Jüdin, nach Santo Domingo und von dort nach New York geflüchtet. Aber das ist eine andere Geschichte. John Renner übersetzt die Briefe für Gita Kaufman. Und sie kehrt zurück in ihre frühe Kindheit nach Wien.

Ihr Vater, Nachman Weinrauch, ist 1918 aus Polen nach Wien gekommen. Er hat dem Kaiser als Soldat gedient und versucht, sich nun in der Hauptstadt des versunkenen Imperiums im Textilgewerbe hochzuarbeiten. Mitte der 1920er-Jahre lernt er seine Frau, Cele Advocat, kennen. Auch sie ist Jüdin, auch sie ist aus Polen eingewandert. Gemeinsam haben sie drei Kinder, Freddy, Harry und Gita. Die Familie wohnt im 22.Bezirk, zieht dann in den zweiten um, auf die Mazzes-Insel, in die Franz-Hochedlinger-Straße 3/6.


Wo ist der Jude? An allzu viel kann sich Gita nicht mehr erinnern, an den lieben Onkel Solomon, seinen Koch. Und sie hört immer noch, wie jemand gegen ihre Wohnungstür schlägt und schreit. „Wo ist der Jude?“ Am 6.Dezember 1939 nehmen Gestapo-Beamte ihren Vater fest, stoßen ihn die Stiege hinunter. „Warum schlagt ihr mich?“, fragt er. „Weil du ein Jude bist.“ Sie treiben ihn über die Reichsbrücke, wollen ihn von dort runterstürzen, führen ihn dann doch hinunter zur Donau, hinein ins eiskalte Wasser. Dann prügeln sie ihn mit Eisenstangen.

Gita Kaufman, keine fünf Jahre alt, besucht gemeinsam mit der Mutter ihren Vater im Rothschild-Spital am Währinger Gürtel. Sie erkennt ihn nicht: Da sitz ein bandagierter Mann, grün und blau geschlagen, den eine Krankenschwester füttern muss.

Zu diesem Zeitpunkt ist die Familie längst in alle Winde verstreut. Tante Paula Advokat hat es nach London geschafft, auch Onkel Josef Weinrauch. Onkel Max Weinrauch ist nach La Paz gelangt, Cousin Walter Advokat mit einem Kindertransport in die Niederlande, wo er nach dem Einmarsch der Nazis im Lager Westendorp landet, dort aber überlebt. Seinen Vater David, der so gern mit Gita gespielt hat, ermorden die Nazis in Minsk. Onkel Josef Advokat, der ein Schuhgeschäft in der Berggasse hatte, endet in Auschwitz.

1940 erst, extrem spät also, gelingt Gita mit ihren Eltern und Brüdern die Flucht über Genua in die USA. Die Familie lebt zunächst in Kingston im Bundesstaat New York, dann in der Bronx, schließlich Upper West Side. Der Vater arbeitet in einer Textilfabrik, dann zieht er sein eigenes Geschäft auf. Viel Zeit hat er nicht für seine Kinder. Doch abends liest er Gita oft deutsche Gedichte vor: „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“


Erste Wien-Besuche 1995. Antisemitismus erleben sie auch in der neuen Heimat. Doch langsam geht es bergauf. Gita wird Pädagogin, ihr Bruder Harry Arzt, ihr Bruder Freddy Elektroingenieur. 1968 lernt Gita ihren Mann kennen, Curt Kaufman, den künstlerisch veranlagten Sohn eines Fernsehfilmproduzenten. Die Firma geht pleite, Curt wird Fotograf, lichtet Stars wie Jack Lemmon oder James Coburn auf dem Filmset ab. Gemeinsam schreiben Gita und Curt ein Buch über ein behindertes Kind namens Rajesh. Das ist ungefähr zu der Zeit, als Gita die Schuhschachtel mit den Briefen ihrer Familie findet.

Jahre vergehen. 1995 begegnet Gita Kaufman in New York bei einer Feier zum 40-jährigen Bestehen der Zweiten Republik dem Historiker Oliver Rathkolb. Sie erzählt ihm von den Briefen. Der damalige Leiter des Bruno-Kreisky-Archivs ist interessiert, besorgt ein kleines Stipendium der Stadt Wien und lädt Gita zu Vorträgen ein. Sie kommt öfter, ihr Mann Curt ist stets dabei. Ein befreundeter Filmproduzent rät ihm, doch einfach einmal eine Kamera mitzunehmen. Vielleicht könne man aus den Ausnahmen etwas machen. Und so entsteht eines der eigentümlichsten und langwierigsten Privatdokumentationsprojekte der jüngeren österreichischen Geschichte.


Czernin, Molden, Wiesenthal. Gita Kaufman geht gemeinsam mit ihrem Mann nicht nur der Geschichte ihrer vertriebenen Familie nach. Die beiden haben sich ein noch viel ehrgeizigeres Ziel gesetzt: Sie wollen herausfinden, ob sich Österreich geändert hat. Und zu diesem Zweck interviewen sie einen Spitzenrepräsentanten der Republik nach dem anderen. Sie bekommen alle vor die Kamera, von Franz Vranitzky über Wolfgang Schüssel und Jörg Haider bis zu Kardinal Schönborn, Hubertus Czernin, Fritz Molden und Simon Wiesenthal. Sogar Kurt Waldheim können sie überreden. Das gelingt nur, weil sie so unglaublich beharrlich sind und auch immer jemanden finden, der weiterhilft. Curt hinter der Kamera, Gita als Interviewerin, die halbe Republik hat die beiden so kennengelernt.

Fast 15 Jahre verstreichen. Curt und Gita werden alt bei dem Projekt. Sie können es einfach nicht abschließen, irgendjemanden gibt es immer noch, den sie interviewen müssen. Mehr als 200 Stunden Filmmaterial entstehen: Gita liest aus den Briefen, dazwischen die Interviews. Curt erkrankt an Krebs, stirbt am 6.Dezember 2011. Gita ist leer ohne ihren geliebten Curt. Doch sie macht weiter. Der Film muss fertig werden. Dieter Pochlatko hilft mit seiner Firma EPO-Film beim Schneiden. Er will etwas Gutes tun, ist fasziniert vom Mut und Willen dieser Frau, von der Kraft der Briefe. Pochlatko poliert die Doku nicht auf. Sie bleibt auf ihre besondere Art authentisch, das Erstlingswerk einer 77-Jährigen. Am Dienstag wird der Film zum ersten Mal gezeigt, im Wiener Filmcasino. Gita ist glücklich. Das sei Curts Vermächtnis, sagt sie. Dabei ist es ihre Geschichte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.12.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.