»Vertrauen ist ein bewusster Verzicht auf Kontrolle«

Philosoph Martin Hartmann setzt im Umgang mit Institutionen eher auf den Begriff Verlässlichkeit statt Vertrauen.

Was passiert, wenn Institutionen, in die eine Gesellschaft vertraut, dieses Vertrauen verlieren?

Martin Hartmann: Man erkennt plötzlich, dass Institutionen von Menschen gemacht werden, die fehlbar sind. Im Alltag verlässt man sich darauf, dass die Dinge reibungslos funktionieren, und vergisst fast ein wenig die Menschen dahinter.

Und wenn, wie bei der Finanzkrise, ein ganzes System betroffen ist?

Da bleibt das Misstrauen diffus, weil man nicht mit dem Finger auf jemanden zeigen kann – wobei die meisten trotzdem noch Bankkonten haben. Man kann oft gar nicht abspringen, weil es kaum Alternativen gibt. Beim ADAC gibt es vielleicht welche, aber beim Finanzsystem wird es schwierig. Bei Konsumentscheidungen haben wir das noch mehr im Griff, da haben wir Wahlmöglichkeiten – das spüren die Hersteller und müssen reagieren. Banken können rhetorische Kosmetik betreiben, aber sie wissen, dass wir keine Möglichkeiten haben, sie zu sanktionieren.

Ist Vertrauen grundsätzlich vernünftig?

Man sagt oft, Vertrauen ist der Kitt der Gesellschaft – aber es gibt schon Gesellschaften, die auf Misstrauen und auf Kontrolle beruhen können. Die Frage ist, ob wir in solchen Gesellschaften leben wollen. Viele davon sind zugrunde gegangen, und man kann fragen, ob das daran lag, dass kein Vertrauen da war.

Kann es sein, dass Vertrauen auch etwas Irrationales hat?

Beim Vertrauen in ein System ist es nicht so leicht möglich, seine Urteilskraft zu bilden und zu schärfen, wie es das in persönlichen Beziehungen ist. Deshalb unterscheide ich auch zwischen Vertrauen und Verlässlichkeit. Mir würde schon genügen, wenn eine Bank verlässlich das tut, was ich von ihr erwarte, vertrauen will ich einer Bank eigentlich nicht.

Wie müsste man dann als Abgrenzung zur Verlässlichkeit Vertrauen definieren?

Als Philosoph ist meine Definition natürlich philosophisch geprägt. Ich nenne es eine Einstellung zu anderen Menschen – ich rede nicht primär von Institutionen –, mit der Erwartungen verbunden sind, die sich auf das Verhalten anderer richten. Man macht sich verletzlich im Vertrauen, aber man macht das bewusst. Im Grunde genommen ist es ein bewusster Verzicht auf Kontrolle und Überwachung, weil man im anderen Wohlwollen oder Rücksicht erwartet.

Aber Vertrauen ist kein Gefühl?

Mein Vertrauensbegriff ist für manche vielleicht zu rational. Manche sprechen schon von einem Vertrauensgefühl, einer Wohligkeit, Entspanntheit. Aber ich glaube nicht, dass es eine vertrauenstypische Emotion gibt, so wie man weiß, wie sich Neid, Hass oder Wut anfühlen.

Es gibt den Begriff „blindes Vertrauen“.

In der Kleinkindpsychologie sagt man, dass da ein Urvertrauen entsteht. Das Kind ahnt, dass die Mutter wiederkommt, wenn sie aus dem Raum geht. Wenn man dagegen Gründe für Vertrauen suchen könnte, aber darauf verzichtet, ist das schon etwas Erwachsenes.

Wenn das Vertrauen einmal gebrochen ist, wie kann man es wieder herstellen?

Man sagt, dass Vertrauen langsam aufgebaut wird und schnell zerfällt. Das glaube ich nicht. Wenn uns eine Beziehung wichtig ist, geben wir die nicht so schnell auf. Manchmal halten wir sogar an der Vertrauensillusion ziemlich lang fest. Ich plädiere für ein dynamisches Vertrauensverhältnis. Es ist nicht immer nur „ich vertraue“ oder „ich vertraue nicht“. Wer das Vertrauen enttäuscht hat, muss die Glaubwürdigkeit wieder herstellen. Das ist nicht erzwingbar und braucht Geduld. Aber wenn jemand enttäuscht wurde, muss er auch an sich selbst arbeiten, sein Vertrauen neu zu vergeben. Das hat ein Unternehmen noch weniger in der Hand. Mit ein bisschen Werbung, ein paar schönen Fotos und einem Slogan mit Vertrauen ist es nicht getan.

Der Philosoph

Martin Hartmann (geb. 1968 in Hamburg) lehrt Philosophie an der Universität Luzern.
Buch:
„Die Praxis des Vertrauens“, Suhrkamp, Berlin, 2011, 20,60 Euro. unilu.ch

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2014)

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