Selbstversuch: Für ein paar Stunden blind

Blindenschleife
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Die NGO Licht für die Welt lud zu einem Versuch, als blinder Mensch durch die Stadt zu gehen. Ein Selbstversuch mit Begleitperson.

Es ist nur eine minimale Bewegung, die wir jeden Abend unbewusst machen: die Augen schließen. Allerdings können wir sie jeden Morgen wieder öffnen. Wie es sich anfühlt, diese Möglichkeit nicht zu haben, wenn es trotz offener Augen dunkel bleibt, wissen die wenigsten. Die NGO Licht für die Welt hat Journalisten die Möglichkeit geboten, einen Nachmittag blind zu verbringen. Unter dem Motto „Blind für einen Tag“ wurden ein Blindenstock, eine Augenbinde und eine Begleitperson zur Verfügung gestellt. Ein Erfahrungsbericht.

Um 14 Uhr werde ich von meiner Begleitperson abgeholt. Die Pressesprecherin empfiehlt im Vorfeld, in einem vertrauten und ruhigen Raum mit dem Versuch zu beginnen. Das Großraumbüro ist mir vertraut, ruhig ist es hier aber bei Weitem nicht. Also habe ich ein Konferenzzimmer für eine halbe Stunde gebucht, wie empfohlen. Eine halbe Stunde, um eine Augenbinde aufzusetzen und einen Stock in die Hand zu nehmen? Dass das bei mir ohnehin nicht gut ausgeprägte Zeitgefühl ohne Sehsinn noch mehr ausgedehnt wird, wird mir in den nächsten Stunden deutlich bewusst werden.

Ich habe Glück mit meiner Begleiterin. Sarah Barci ist eine sympathische Frau und hat aufgrund ihrer früheren Tätigkeit bei Ö1 eine angenehme Stimme. Auch das werde ich im Laufe des Nachmittags zu schätzen wissen. Wir besprechen die Abläufe, wo es hingehen soll. Um 15 Uhr wartet die Fotografin auf uns bei der Oper, danach möchte ich Geld abheben, einen Kaffee trinken, vielleicht eine Kleinigkeit essen, und kurz vor 17 Uhr müssen wir beim Ringturm sein, dort wartet eine Gesprächsrunde auf uns.

Wir einigen uns auf das Du-Wort. Es wäre seltsam, sich zu siezen, wenn ich mich die nächsten Stunden bei ihr festhalten werde. Das Gehen mit Begleitperson funktioniert so: Ich nehme den Blindenstock in die rechte Hand. Meine linke Hand lege ich auf ihren rechten Arm, den sie abgewinkelt hat. Sie kommentiert den Weg. Wenn wir bei einer Türschnalle ankommen, kündet sie mir das vorher an und streckt ihren Zeigefinger aus. Ich kann dann mit meiner Hand ihren Unterarm entlangfahren und werde dank Zeigefinger zum Griff geführt. Das ist nett, weil ich so selbst Türen aufmachen kann.

Wir gehen ins Stiegenhaus und ein paar Stockwerke hinab, sie hält meinen Stock und ich mich an ihr und dem Handlauf fest. Stiegensteigen ist gar nicht so einfach, jeder Schritt eine bewusste Bewegung. Ich bin so mit dem Gehen beschäftigt, dass ich die Stockwerke nicht zähle. Wir landen im dritten statt im zweiten Stock. Sie kennt die Umgebung nicht und verneint meine Frage: „Da muss die Küche sein, siehst du sie?“ Spätestens als mich der Kollege aus der Wissenschaftsredaktion grüßt, weiß ich: falscher Stock. Also noch ein paar Stiegen, bis ich zu meiner Jacke komme. Es ist 14.45 Uhr.

Die nächste Mission führt uns zur U3-Station. Der Weg, von dem ich geglaubt habe, ich könnte ihn blind gehen, kommt mir unendlich lang vor. Wir kommen zur U-Bahn. Ich höre einen Mann offenbar zu seinem Kind sagen: „Komm her da.“ Sarah erzählt, dass die beiden vor dem Aufzug gewartet haben, sich es aber anders überlegt haben, als sie uns erblickt haben. Wir fahren zu den Bahngleisen und warten auf die U-Bahn.

Spring auf die Stufe

Es fühlt sich soweit normal an, ein bisschen aufregend, weil anders, und ich fühle mich gut aufgehoben. Wir steigen in die U-Bahn und als die Durchsage erklingt, erschrecke ich. Es ist unglaublich laut. Sarah berichtet, dass uns die Leute komisch anschauen. Das stört mich nicht, ich sehe die Blicke nicht. Das Aussteigen funktioniert gut, aber die Rolltreppe ist eine Herausforderung. Ich muss auf Sarahs Kommando auf die fahrende Stufe steigen und gleichzeitig den Stock heben. Wir kommen am Karlsplatz an. Dort kann ich das Führen des Blindenstocks über die dafür vorgesehenen Rillen üben. Ich mache es falsch, fahre hektisch über die Rillen. Erst später komme ich drauf, dass man den Stock in die Rille legen und ihn sanft gleiten lassen muss. Ich nehme also die Steinplatten, und da ich den Stock verkrampft halte, bleibe ich bei jeder neuen Platte hängen. Das dauert. Die Fotografin haben wir vorgewarnt, sie ruft zum Glück bei Sarah an. Wir sind zu spät. Endlich angekommen, erkenne ich sie an ihrem Lachen. Wir machen die Bilder nach ihrer Anweisung. Das funktioniert gut.

Der Trick mit den Rillen

Danach gehen Sarah und ich die Kärntner Straße entlang Richtung Stephansplatz – sie wirkt wie die längste Straße der Welt. Sarah berichtet, dass mir ein paar Frauen böse Blicke zuwerfen, weil ich immer wieder kleine Schritte zur Seite mache und sie dadurch schneide. Ihr Blick erstarrt dann aber und geht in Mitleid über, wenn sie uns, während des Überholens, über die Schulter ansehen. Das Gehen wird immer besser, ich habe den Trick mit den Rillen verstanden. Die Leute machen Platz, und ich finde es nett, sich komplett auf einen anderen Menschen zu verlassen. Ein gutes Gefühl. Aber das Wissen, jederzeit die Maske abnehmen zu können, ist auch da. Das haben Blinde nicht.

Wir heben Geld ab. Sarah beschreibt, wo welche Taste ist, ich suche die Geldbörse aus meiner Handtasche, nehme die Karte raus, gebe die Geldbörse wieder zurück und mache die Tasche zu. Normalerweise mache ich das nicht so umständlich. Als ich den Code eingeben will, spuckt der Automat die Karte wieder aus. Zu langsam. Es klappt beim zweiten Mal.

Sarah hat die Uhr im Blick, wir entscheiden uns für einen Kaffee in der Aida am Stephansplatz. Die Distanz kommt mir so lange vor, ich habe das Gefühl, in den zweiten Bezirk zu gehen. Wir kommen an und wollen drinnen Platz nehmen. Ich stoße mit meinem Stock gegen etwas und frage: „War das die Tür?“ – „Nein, der Kellner.“ Als ich mich entschuldigen will, sagt sie: „Der ist schon längst wieder weg.“ Wir bestellen Kaffee, die Kellnerin ist gestresst und unhöflich. Sie knallt mir das Silbertablett fast auf die Hand, immerhin weiß ich jetzt, wo es steht. Ich führe die Tasse langsam zum Mund und erwische die Nase. Da ich zu meinem Espresso eine viel zu große Untertasse bekommen habe, bin ich irritiert, als ich die Tasse abstellen möchte. „Du kannst sie abstellen, die Untertasse ist zu groß.“ Es sind Sätze, die man sonst nie sagen würde. Mittlerweile sind wir uns vertraut, wir unterhalten uns nett. Ich darf zahlen und freue mich wie ein kleines Kind, weil ich die verschiedenen Banknoten blind erkennen kann.

Weiter geht es in Richtung Rotenturmstraße. Es ist angenehm, diese sonst so hektische Straße ruhig entlang zu gehen. Fast so, als ob eine Wolke der Entschleunigung über uns schweben würde. Alle machen Platz. Wir liegen gut in der Zeit und gehen auch das letzte Stück zu Fuß. Wir überqueren viele kleine Seitenstraßen. Sarah sagt mir jede Gehsteigkante an. Sie stolpert, ich halte sie fest, und ein Mann, der uns beobachtet hat, muss lächeln. Nein, ich habe das nicht gesehen, Sarah hat es mir erzählt. Wir sind da.

Tipp

Ausstellung: „Presse“-Fotografin Katharina Roßboth befasst sich gemeinsam mit Ralph Nachtmann in „Blickdicht“ (Fotografische und filmische Dialoge mit dem Sehsinn) mit der Welt des Nicht-Sehens. Vernissage: 7. November, 20 Uhr, Dialog im Dunkeln (1., Schottenstift Freyung 6). Die Ausstellung läuft im Rahmen des Eyes-On-Festivals bis zum 21. November. Infos: eyes-on.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2014)

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