Wenn die Eltern die Stasi sind

Die junge Angela Marquardt bei einem Ausflug. Nach dem Fall der Mauer legt sie eine steile Politkarriere hin.
Die junge Angela Marquardt bei einem Ausflug. Nach dem Fall der Mauer legt sie eine steile Politkarriere hin.(c) Privat
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Die deutsche Politikerin Angela Marquardt wurde als Minderjährige von der Stasi und ihren Eltern instrumentalisiert – ohne ihr Wissen, wie sie in ihrem neuen Buch beschreibt.

Wenn Angela Marquardt Sätze hört wie „Wir haben doch ganz normal gelebt in der DDR“, wenn ihre Umgebung der Ostalgie verfällt, wenn Kollegen ihrer alten Partei PDS, die aus der Sozialistischen Einheitspartei SED hervorging, Schwierigkeiten damit haben, die DDR als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen, dann wird sie wütend. „Nichts war normal in einem Land“, schreibt die Politikerin, „das Flüchtende erschoss, Kritiker einsperrte sowie Kinder und Jugendliche ,ausbildete‘ und diese sich gegenseitig bespitzeln ließ.“ Für sie, die im Osten aufgewachsen ist, war die DDR ein Unrechtsstaat, ein System, das ihr böse mitgespielt hat. Von einer Verharmlosung will Marquardt nichts wissen.

Sie ist 15 Jahre alt, als sie einen selbst verfassten Zettel unterschreibt, mit dem sie sich freiwillig verpflichtet, „das MfS in seiner Arbeit zu unterstützen“. Sie wolle, dass Feinde unschädlich gemacht werden, steht dort zu lesen, und auch, dass ihre Entscheidung auf ihrer „politisch ideologischen Überzeugung“ beruhe. Für das MfS – Ministerium für Staatssicherheit, kurz Stasi, den Geheimdienst der DDR – wählt Marquardt das Synonym Katrin Brandt. Rückblickend kann sie sich an viele Details nicht erinnern, die zu dieser Verpflichtung geführt haben. Fest steht nur: Damit wurde Marquardt zu einer von 173.000 Informanten der Stasi, wie sie in ihrem neuen Buch „Vater, Mutter, Stasi“ beschreibt (es steht nicht eindeutig fest, wie viele der „Informanten“ minderjährig waren). Ausgerechnet ihre Eltern haben sie in die Klauen des Spitzelsystems getrieben.

Marquardt ist erst nach dem Fall der Mauer in der Lage, die Tragweite ihrer Unterschrift zu rekonstruieren und annähernd zu begreifen. Es ist Mai 2002, als ein Journalist über die Unterlagen stolpert und diese publik macht. Zu diesem Zeitpunkt ist Marquardt, Jahrgang 1971, die jüngste Abgeordnete im deutschen Bundestag. Die Nachricht trifft sie wie ein Stromschlag, beschreibt sie in ihrem Buch: „Ich fühlte mich unglaublich leer.“ Später beginnt sie, ihre Akten aufzuarbeiten. Es wird eine Reise in die Vergangenheit, in die zerrüttete Welt ihrer Kindheit.

Sadist als Vater

Marquardts Mutter ist Lehrerin in Greifswald. Ihr Vater ist ein Sadist, der die Hand der jungen Angela auf den Metalldeckel der Waschmaschine presst, um ihre Frage zu beantworten, ob der Deckel wirklich heiß sei. Die Eltern trennen sich früh, später tritt Michael in das Leben der Marquardts ein, ihr Stiefvater. Er ist es auch, der die Stasi-Kontakte in die Familie bringt. Zuerst wird die Mutter rekrutiert, ihre Wohnung wird zu einem konspirativen Stasi-Treff. Wenn die drei „Freunde“ der Eltern kommen, muss Marquardt mit ihren Geschwistern oft spazieren gehen, später darf sie, die Große, auch daheim bleiben.

Sie kocht Kaffee für die Männer, fasst schnell Vertrauen. Es gefällt Marquardt, dass sie wie eine Erwachsene behandelt wird. Sie erzählt den Männern von der Schule, ihren Freunden, ihrem Judo-Kurs. Was für die Stasi als informeller Austausch, als Test beginnt, wird später mit der Unterschrift offiziell. Eine Empfehlung an die Stasi kommt von Marquardts Mutter. Ihre Tochter sei ein ehrgeiziger und fleißiger Mensch, gibt sie den „Freunden“ zu Protokoll. Angela trage großes Verantwortungsbewusstsein, besitze eine positive Grundhaltung der DDR gegenüber. Nach einer Zeit der Vorbereitung – Angela Marquardts Akte wurde angelegt, als sie 14 Jahre alt war – schreibt sie schließlich die Verpflichtungserklärung. Sie kann sich an eine Szene am Küchentisch erinnern; ihr wird erzählt, wie wichtig ihre Arbeit ist. Dabei kommt sie, die 15-Jährige, sich klug und cool vor. „Die Stasi, das waren Menschen, die für mich als Freunde meiner Eltern bei uns ein- und ausgegangen waren“, schreibt Marquardt. Normale Begleiter, die sie nicht infrage stellt.

Die Spitzel haben großes vor mit Marquardt, der Mauerfall wird den Plan aber verhindern. Zunächst zeigen die „Freunde“ Interesse an ihren Mitschülern David und Silke. Über David erzählt Angela, dass er regelmäßig die Kirche besuche und sich rege an Diskussionen beteilige. Viele Unterlagen von ihren „Aussagen“ gibt es allerdings nicht. Vermutlich wurden sie von PDS-Funktionären nach der Wende zerstört.

Missbrauch

Das Vertrauen, das Marquardt zu den „Freunden“ fasst, wird spätestens ab dem Zeitpunkt gefestigt, als ihre Eltern und Geschwister von Greifswald nach Frankfurt/Oder ziehen. Obwohl minderjährig, bleibt Angela Marquardt allein in Greifswald zurück, die „Freunde“ helfen ihr, sagen, dass sie sie jederzeit anrufen könne. Sie werden zu einem Anker für Marquardt, während der Wegzug der Familie eine seelische Erleichterung ist. Marquardt wird von ihrem Stiefvater Michael sexuell missbraucht. Die Übergriffe beginnen, als Michael und die Kinder einen Ausflug nach Rügen machen – Marquardt ist neun Jahre alt. Es ist wegen dieses „Geheimnisses“, schreibt sie, dass sie nach der Wende mit der Vergangenheit abschließt – bis sie von den Enthüllungen wieder eingeholt wird.

„Der doppelte Missbrauch – erst durch meinen Stiefvater, dann durch die Stasi – hat mir lange das Leben schwer gemacht“, schreibt Marquardt. Von beiden habe sie sich nun befreit. Aus der PDS tritt sie nach langwierigen Differenzen aus, später heuert sie bei der SPD an. Nach ihren Recherchen findet Marquardt, dass sie ihre Geschichte niederschreiben muss. Wenn sie weiterhin schweige, werde die Stasi ewig Macht über sie haben.

Im Stasi-Netz

Die deutsche Politikerin Angela Marquardt – früher PDS, heute SPD – beschreibt in ihrem neuen Buch „Vater, Mutter, Stasi“
ihre Jugend im Stasi-Netz. Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, 248 Seiten; 15,50 Euro.

Steckbrief

Angela Marquardt wird 1971 in Ludwigslust (Mecklenburg-Vorpommern) geboren. Ihre Mutter und ihr Stiefvater sind Informanten der Stasi, dadurch gerät auch die Minderjährige Marquardt ins Stasi-Netz.

2002 wird enthüllt, dass sie eine Informantin war. In ihrem Buch „Vater, Mutter, Stasi“ arbeitet sie ihre Geschichte auf.

Karriere: In den 1990er-Jahren war Marquardt in der PDS, später vertritt sie die Partei im Bundestag. Zum Zeitpunkt der Enthüllung ist sie die jüngste Abgeordnete. Nach Differenzen tritt sie 2003 aus der Partei aus. Seit 2008 ist sie Mitglied der SPD. Marquardt ist für die Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles tätig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.04.2015)

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