Himbeertee und Mairegen

Wer sich im Herbst an sie erinnern will, fermentiert jetzt Himbeerblätter.
Wer sich im Herbst an sie erinnern will, fermentiert jetzt Himbeerblätter.(c) Ute Woltron
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Fermentation. Himbeeren und Brombeeren liefern nicht nur Früchte, sondern jetzt auch interessante Tees, wenn man ihre Blätter jung erntet und einem Verwandlungsprozess unterzieht.

Der Mensch denkt nicht nur mit dem Gehirn, sondern mit dem ganzen Körper, und in jeder Faser speichert er Erinnerungen und Erfahrungen ab. Füße merken sich beispielsweise ein Leben lang, wie sich sommerregenwarmer Schlamm zwischen den Zehen anfühlt, sie erinnern sich an barfüßige Spaziergänge über Stoppelfelder und taunasse Wiesen. In den Händen ist das Gefühl kühler Bäuche und zappelnder Beinchen gerade eingefangener Frösche genauso gespeichert wie die Erinnerung an unvorsichtiges Hantieren mit Feuer und das vergleichsweise erfreulichere Auswischen kuchenteigbedeckter Schüsseln samt anschließendem Fingerabschlecken.

Und dann erst die Nase: Ein Hauch von Holzrauchduft kann den gesamten Leib mit Reminiszenzen an die Lagerfeuer später Herbstnachmittage erfüllen, der Seifengeruch altmodischer Rosen lässt den altweiberfädenglitzernden Garten der Oma wieder auferstehen, und frisch geschnittenes Gras riecht vielleicht für so manchen wie die scheinbar unendlich langen Sommerferien von früher. Der Mensch ist wahrlich ein unergründeteres Geschöpf als uns Schulmedizin, Philosophie, Religion und alle anderen reinen Lehren glauben machen wollen, und selig die, die auf ihren Bauch mindestens genau so hören wie auf ihr Gehirn.

„Was trinkst du da?“, fragte vor Zeiten einer der gemütlichsten Kollegen. „Malzkaffee“, sagte ich. Es war früher Morgen, und die Redaktion war noch leer. „Mei“, sagte er, „wie schön.“ Doch eigentlich gehöre Malzkaffee unbedingt in eines dieser altmodischen Porzellanhäferln mit ganz dickem Rand, die es nur noch auf Flohmärkten gebe. Dann blickte er versonnen durch das Fenster, streckte die Finger aus, ließ sie auf und ab tanzen und ergänzte: „Und draußen kann es ruhig ein bisschen regnen.“

Garten im Zeitraffer

Der Mai ist einer jener Monate, die uns mit Sinneseindrücken überschütten, weil die Natur nachgerade explodiert. Jeden Tag blühen andere Pflanzen auf. Die meisten riechen gut, wie der Flieder, die Maiglöckchen und die ersten Rosen. Andere stinken, wie der Wollige Schneeball und, der grässlichste je gerochene Pflanzengestank, die Teufelszunge. Der Garten entwickelt sich wie im Zeitraffer, kaum haben die Ribiseln geblüht, bilden sich schon die ersten Beeren, bald werden sie sich rot und schwarz verfärben und zu ernten sein.

Die Himbeeren und Brombeeren brauchen noch eine Weile, aber für Leute, die lieber Tee als Malzkaffee trinken oder gar beides schätzen, bieten sie jetzt bereits reiche Ernte an: Frische junge Beerenblätter. Einfach nur getrocknet und zu Tee gebraut schmecken sie langweilig. Wer sie jedoch fermentiert, wird erstaunliche Aromen erschnuppern und erschmecken dürfen. Durch diesen einfachen Veredelungsprozess entwickeln sie vanillige, dunkle, samtige Noten, und wer es versuchen will, geht folgendermaßen vor.

Die jungen Blätter werden gepflückt und für ein paar Stunden aufgelegt, sodass sie anwelken können. Dann werden sie zusammengerollt, grobnudelig kleingeschnitten und anschließend kräftig durchgeknetet. Die Zellstrukturen werden so zum Teil aufgebrochen, Zellsaft kann austreten – und das ist der eigentliche Trick bei der Angelegenheit. Das solchermaßen bearbeitete Blattgrün wird danach auf einem leicht befeuchteten Tuch ausgebreitet und fest zusammengerollt. Abschließend wird die Rolle luftdicht verpackt und zimmerwarm für etwa drei Tage aufbewahrt. Die Blätter dürfen nicht gänzlich austrocknen, sollten aber auch nicht zu feucht sein. Der Begriff Fingerspitzengefühl darf hier ins Treffen geführt werden, also eben jene Körperintelligenz, die man nicht im Hirn, sondern im Leib hat.

Während der drei Tage Rast vollzieht sich die sogenannte Fermentation, die im Fall der Teefermentation tatsächlich aber keine solche ist. Denn hier sind, im Gegensatz zur „echten“ Fermentation, keine Bakterien im Spiel, sondern Oxidationsvorgänge. Wie auch immer – nach drei Tagen werden die Rollen geöffnet, die Blätter müssen nun gut trocknen. Das passiert entweder an einem schattig-luftigen Ort oder bei milden Temperaturen in einer Darre. Anschließend luftdicht verpacken und noch ein paar Wochen ruhen lassen, bevor man den Tee erstmals verkostet. Ganz frisch schmeckt er noch nicht so gut wie nach einer angemessenen Reifephase.

Möglicherweise erinnern sich dann im Herbst, wenn Sie den Tee schlürfen und in den Nebel hinausschauen, Ihre Finger an die Konsistenz der frischen Blätter, Ihre Nase an den Geruch frisch zerdrückter Blätter, Ihre Beine an den Weg hinaus zu den Himbeersträuchern.

Fermentierte Blätter. Dazu eignen sich insbesondere junge Himbeer- und Brombeerblätter, aber auch Blätter von Erdbeeren und Brennnesseln. Der Tee ist ewig lang haltbar und verliert kaum an Aroma.

Körpergedächtnis. Hat nichts mit esoterischen Anwandlungen zu tun, sondern ist ein noch recht unerforschtes Wissensgebiet. Ein Beispiel: Auch nach Jahrzehnten des Nichtpraktizierens kann man tadellos Radfahren, wenn man es einmal gelernt hat.

Teufelszunge. Amorphophallus konjac, aus Asien stammend und hierzulande gern Tränenbaum genannt, bildet, wenn die Pflanze bereits ein paar Jahre auf der Knolle hat, im Frühling riesige, meterhohe Aaronstabblüten, die penetrant nach Aas stinken.

Brombeer- Schlaraffenland

Das Aroma wilder Waldbrombeeren wurde von keiner Zuchtsorte je erreicht, doch es gibt ein paar neuere Züchtungen, speziell die stachellosen Varianten, sie kommen den wilden Beeren nah. Diese neuen Sorten wuchern besonders stark und müssen entsprechend im Zaum gehalten werden. Die ältesten Fruchttriebe gehören im Frühjahr bodennah zurückgeschnitten, sechs bis acht Triebe bleiben stehen. Sie brauchen allerdings Stütze, und hier kann man sich durchaus auch mit einem Rosenbogen behelfen. Die Bogenkonstruktion erleichtert die Ernte ungemein und schaut auch recht fesch aus. Es reicht, eine Pflanze auf einer Seite des Bogens zu setzen, die Ranken werden dann laufend in die Querstreben des Bogens gefädelt bis auf die andere Seite. Sie bleiben so von selbst an Ort und Stelle und Ihnen wachsen die Beeren sozusagen in den Mund.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2015)

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