40, ohne Kind – na und?

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Frauen ab Mitte 30 müssen sich oft rechtfertigen, wenn sie Single sind oder keine Kinder haben. Ein Plädoyer für mehr Toleranz mit anderen Lebensentwürfen.

Ich habe es soeben geschafft, nicht über einen Spielzeug-LKW zu stolpern und wäre dafür beinahe von einer Filzbiene zu Fall gebracht worden. Gerade, als ich meine Balance wiedererlange, fragt Bianca: „Ist das eh nicht schlimm für dich, dass hier alle außer dir verheiratet sind und Kinder haben?“ Ich weiß, dass sie es gut meint. Wir befinden uns auf ihrer Terrasse, und sie flüstert mir diesen Satz zu, während sie einen Fleck von ihrer neuen Lounge-Liege schrubbt. Wir kennen einander seit dem Kindergarten; sie und ihr Mann haben zum Sommerfest geladen, und ich bin zufällig die Quoten-Singlefrau der Veranstaltung.

Ich antworte beschwichtigend und bahne mir den Weg zum Pool, um mich abzukühlen. Doch zwischen den planschenden Kindern ist kein Platz für mich. Ich setze mich also in den Schatten zu den Müttern und sehe mich um. Ich kenne diese Menschen seit gut fünfzehn Jahren. Ich brenne auf Neuigkeiten, doch irgendwie kommen die Frauengespräche nicht in Gang. Nach jedem „Leonie, nicht!“ oder „Emil, das ist aber nicht sehr nett, wenn du den Tristan schlägst!“ hat die jeweilige Erziehungsberechtigte vergessen, worum es eigentlich ging. Die Themen rangieren zwischen der Konsistenz der Ausscheidungsprodukte ihres Nachwuchses, den Vorteilen einer Hausgeburt und der Beschaffenheit des soeben in Italien bestellten Sofas. Das laugt mich aus, und ich geselle mich zu einer Männerrunde, die über Autos redet. Also gehe ich ins Haus und setze mich in einer kühlen Ecke auf den Marmorboden.


Ein Irrtum. Biancas Frage liegt ein weit verbreiteter Irrtum zugrunde: Dass ihr Lebensentwurf – verheiratet, Kinder, Eigenheim – für alle Menschen gleichermaßen erstrebenswert ist. Kein Wunder. Viele von uns wachsen in einem klassischen Familienverband auf und stellen das erst einmal nicht in Frage. Doch wir entwickeln uns, entscheiden, was wir mit uns anfangen möchten, definieren unsere Werte. Ich zum Beispiel verspüre keinen Drang, mich fortzupflanzen. Ich habe es gern still. Das Eingehen einer offiziell anerkannten Lebensgemeinschaft ist für mich eine schöne Bereicherung, wenn es passiert. Aber nichts, das es zu schaffen, zu erreichen gilt.

Bianca wuchs in einer sehr konservativen Familie auf und meinte immer, dass sie nie und nimmer so werden wollte wie ihre Eltern. Sie studierte gegen deren Willen Kunst, war wild und experimentierte. Doch dann – Mann, Schwangerschaft, Hochzeit, Designer-Möbel. Vielleicht hat sie ihre wahre Bestimmung gefunden und ist glücklich. Oder ist sie erleichtert, doch endlich so zu sein wie die anderen?

Als Kind wäre ich gern wie alle anderen gewesen. Doch meine persönliche Geschichte hat mich früh gelehrt, dass die Sicherheit äußerer Strukturen von heute auf morgen verschwinden kann. So bin ich viele verschlungene Wege entlang getaumelt, bis ich herausfand, wie ich mir meinen eigenen Pfad durch den Lebensdschungel schlagen konnte. Wenn ich mich also in den perfekten Behausungen der perfekt gestylten Paare an die perfekt dekorierten Tische setze und die perfekt temperierten Weine trinke, freue ich mich für sie, also die Paare, denn ich freue mich für alle, die glücklich sind und ihren Platz gefunden haben. Gleichzeitig überkommt mich ein Gefühl des Unbehagens. Hinter zu viel Perfektion vermute ich automatisch ein Geheimnis.

Scharfe Stimmen dringen aus der Küche. „Wir können keine zweite Wasserkaraffe auf den Tisch stellen, wir haben nur einen Untersetzer!“ – „Aber wir sind so viele, dann müssen wir dauernd aufstehen und nachfüllen!“ – „DU hast ja gesagt, du besorgst noch Untersetzer!“

Ich eile wieder in den Garten hinaus und versuche, nicht über den Subtext dieses Gesprächs nachzudenken. Kurze Zeit später erscheinen Bianca und ihr Mann mit strahlenden Gesichtern sowie Speisen, Getränken – und nur einer Karaffe. Ist dies das Geheimnis langer Beziehungen? Die Fähigkeit so zu tun, als wäre alles in Ordnung? Das Brodelnde muss sich dann anders Luft machen. Zum Beispiel in Form abschätziger Blicke oder scheinbar lustiger Seitenhiebe auf den Partner, am besten in Gesellschaft. Aber was weiß ich schon? Niemand kann hinter Fassaden blicken, und wie wir sie interpretieren, hängt ganz von unseren eigenen Erfahrungen ab. Ich weiß nur, dass wir es eigentlich nicht notwendig haben, irgendeinem Idealbild entsprechen zu müssen. Wir dürfen – theoretisch – alles werden, alles sein. Wir haben die Freiheit, unsere eigenen Regeln zu schreiben.

Ich höre sie schon, die protestierenden Stimmen: Aber die Realität. Die Existenz. Die Verantwortung. Du hast keine Familie, keine Kinder. Du verstehst das nicht. Du kannst machen, was du willst, aber ich kann nicht einfach ausbrechen. Ich muss funktionieren. Stimmt, ich kann nur für mich selbst reden. Ich habe die Freiheit, mich jeden Tag aufs Neue für das Leben zu entscheiden, das ich führe. Jeden Tag kann ich zu mir selbst sagen: Ja, ich will. Andererseits – ohne den schützenden Rückhalt einer Familie allein für sich verantwortlich zu sein, ist auch nicht immer rosig.

Kürzlich traf ich eine Bekannte wieder, die ich viele Jahre nicht gesehen hatte. Ihre erste Frage war: „Und, was gibt's bei dir Neues? Mann, Kinder?“ Ich verneinte und murmelte etwas von „da bin ich seitlich dran vorbeigegangen“ und „viel im Ausland“ und „selbständig gemacht“, während sie versuchte, ihren mitleidigen Blick zu kontrollieren. Ich war konsterniert.

Sehen wir einander wirklich immer noch wie in Fünfzigerjahre-Werbespots? Ich dachte, die Ansicht, nur Fortpflanzung könne das weibliche Leben wahrhaftig erfüllen, sei inzwischen nur noch unter Greisen verbreitet? Ich kann natürlich zwischen Small Talk und einer tiefgründigen Unterhaltung unterscheiden. Aber warum fragte meine Freundin nicht einfach: „Wie geht es dir?“

Wir sollten die Freigeister, Künstlerinnen, einsamen Wölfe und Eremitinnen nicht bedauern. Sie gehen ihren Weg, wie sie ihn am besten gehen können. Wir sollten nicht versuchen, sie zwanghaft zu verkuppeln oder mit Vertreterinnen des anderen – oder des gleichen, je nach Bedarf – Geschlechts zusammenzubringen, weil wir glauben, sie fühlen sich einsam. Es kann gut sein, dass sie gerade andere Prioritäten haben. Vielleicht lassen sie sich nicht einordnen. Vielleicht wirken sie etwas schrullig. Aber das ist in Ordnung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2015)

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