"Mit Ihrem Aussehen geht das gar nicht"

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Seit 52 Jahren macht Heribert Sasse Theater. Er hat an die 120 Stücke inszeniert und ist in circa sechzig Rollen aufgetreten. Ein Gespräch über Triumphe wie den »Werther« und den »Herrn Karl«, die Liebe zum ausgehenden 19. Jahrhundert und seinen frühen Wunsch, ein Haus zu leiten. Politiker und Epigonen kommen bei ihm aber nicht besonders gut weg.

Sind Sie ein treuer Mensch, Herr Sasse?

Heribert Sasse: Ja.


Wem?

Mir selbst.


Man kann auch Dichtern treu sein. Sie haben „Werther“ an die 1840-mal vorgetragen. Zu Ihrem Geburtstag werden Sie das am Montag in der Josefstadt wieder tun. Warum?

Der Werther begleitet mich seit mehr als 40 Jahren. Das relativiert die große Zahl. Weitere meiner ständigen Begleiter sind Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und Ödön von Horváth. Ich habe den Leutnant Gustl mehr als 300-mal gespielt, ähnlich oft, auch als Solo, Buchmendel, so wie „Jugend ohne Gott“ und „Ich, Feuerbach“. Es gibt, sagen wir, viele Verwandtschaften.


Wie ist Ihnen dieser Goethe passiert? In der Schule ist es oft so, dass man von Klassikern abgeschreckt wird – spätestens, wenn der Lehrer antikes Wissen in „Faust II“ abprüft.

Ich hatte keinen sadistischen, zynischen Deutschlehrer, sondern einen faden. „Die Leiden des jungen Werthers“ waren in der Schule für mich nicht spannend. Dann sollte ich am Düsseldorfer Schauspielhaus als junger Schauspieler in „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf spielen, ein damals populäres Stück über einen Ostberliner Jungen, der diesen Goethe-Roman und seine Parallelen zum eigenen Leben entdeckt. Das war nicht meins, ich lehnte es ab, da ich mir das Berlinerische nicht zutraute, ebenso wie ich mir den Kleist nicht zutraute. Aber ich habe damit begonnen, das Original von Goethe zu lesen. Immer wieder. Ich schlug vor, es als Solo im großen Haus zu geben.


Was hat der Intendant dazu gesagt?

Ich musste das Haus dafür mieten, ihm war das zu riskant. Ein Jahr lang bereitete ich mich darauf vor, machte daraus eine zweistündige Fassung. Da ich nicht gut im Vorlesen bin, wegen einer leichten Legasthenie, habe ich den Text auswendig gelernt. Die Briefe habe ich mit der Zeit variiert, manche wurden mir im Alter wichtiger. Nach der Premiere meldete die „FAZ“ auf der Titelseite: „1000 Leute für ,Werther‘. Wer hätte das gedacht?“, mit einer Bombenkritik darunter. In den ersten Jahren habe ich es also 80- bis 100-mal gegeben. Es war ein großer Erfolg, aber ich hatte ja auch das Risiko zu tragen.


Muss man Risiko lieben, um Intendant zu werden, wie Sie das später waren?

Risken sind doch abschätzbar. Und Intendanzen machten an die 20 Jahre meines Berufslebens aus. Gesamtverantwortung hat mich immer interessiert. Ich wollte schon ganz früh ein eigenes Theater haben.


Wie sind Sie zum Theater gekommen?

Am Anfang stand ein Rauswurf. Da musste ich das Max-Reinhardt-Seminar wegen Disziplinlosigkeit nach drei Monaten verlassen. Ich fand es nämlich nicht besonders prickelnd, der Persönlichkeit des Lehrers nachzueifern, wie das damals üblich war. Wenn ich unterrichte, kann ich es nicht leiden, dass da oben lauter Sasses stehen. Man muss die Studenten zu ihrer eigenen Persönlichkeit hinführen und darin festigen. Meine Eltern waren anfangs über meinen Berufswunsch gar nicht erbaut. Es war eine sehr bürgerliche Familie, die Oper, Theater und Konzerte besuchte. Ich musste schon selbst schauen, dass ich beim Theater etwas werde. Erst habe ich Elektrotechnik fertig studiert, dann hatte ich eine Managementausbildung bei Procter & Gamble.


Und der konkrete Beginn am Theater?

Mein erster Satz auf der Bühne des Volkstheaters bei Professor Gustav Manker war: „Ist das nicht das Lokal, in dem der Mord geschah?“ Den hat man wahrscheinlich bereits in der zweiten Reihe nicht mehr verstanden. Erst kamen kleine Rollen, ich war auch Beleuchter. Im Kellertheater habe ich etwas später in München, noch während des Studiums, Wolfgang Bauers „Magic Afternoon“ inszeniert und gespielt. Das hat Bauer gesehen, dadurch bin ich sehr rasch nach Berlin gekommen, habe das Stück an der Freien Volksbühne im Westen gespielt. Durch diesen Erfolg wurde ich ans Schillertheater geholt, da habe ich am Schlossparktheater den Blasi in „Change“ gespielt.


Sie hatten mit 30 eine Schilddrüsenkrankheit. Hat das Ihre Karriere beeinflusst?

Absolut. Dadurch fielen gleich mehrere Filmrollen weg. Die Besetzungschefin einer großen Filmfirma sagte mir: „Mit Ihrem Aussehen geht das gar nicht. Sie werden doch nicht ernsthaft glauben, dass man damit Karriere macht?“ Also habe ich dann mehr Stücke inszeniert – an die 120, denen circa 60 Rollen gegenüberstehen. Diese wurden oft mehr als hundertmal, auch mehr als 200-mal gespielt. Bei „Arturo Ui“ waren es über 300 Vorstellungen, beim „Herrn Karl“ über 200. Ihn haben mir meine Mitarbeiter eingeredet. Für mich kam das zuvor überhaupt nicht infrage.


Warum?

Ich habe Helmut Qualtinger gekannt, mit ihm in Wien im Schauspielhaus „Die Unüberwindlichen“ von Kraus gemacht. Ich spielte die Hauptrolle, er hat inszeniert. Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe mir seinen „Herrn Karl“ noch nie komplett angesehen. Ohne es zu wollen klaut man bei einem großen Interpreten unwillkürlich. Es ist für Schauspieler überhaupt schlauer, ins Wirtshaus zu gehen, um zu lernen, wie Menschen agieren, als ins Theater. Dort verwandeln sie sich oft in Unmenschen.

Im Theater gibt es nicht nur Erfolge. Was waren die schlimmsten Erfahrungen?

Schillers „Fiesko“ im Schillertheater. Ich hatte nicht die erzählerische Pranke dazu. Und hier in Wien war es in der Josefstadt Brechts „Die Judith von Shimoda“. Das eigentliche Stück schrieb eine Freundin Brechts, die Gespräche in den Logen er selbst. Letztere fand ich schlecht, wollte dieses Vorerzählen herausstreichen. Aber Brechts Tochter Barbara Schall ließ das nicht zu. Total daneben ging auch ein Stück mit Paul Hubschmied. Es lag nicht am Star, sondern an meiner falschen Stückwahl.


Und die positiven Überraschungen?

Sándor Márais „Die Glut“. Ich habe tatsächlich ein Abendessen inszeniert, mit allen Gängen, wie im Buch. Ohne Pause, zwei Stunden. Da kamen mir Zweifel, trotz großer Schauspieler. Mein Dramaturg hat mich während der Proben beruhigt. Er hatte recht: Es wurde ein Riesenerfolg. Und bei „Indien“ war ich für Berlin skeptisch. Die Aufführung wurde in Deutschland und in Wien ein voller Erfolg. Wieder ein Irrtum!


Wie steht es mit Vorbildern?

Inszenierungen von Fritz Kortner, Franco Zefirelli, Patrice Chéreau und Giorgio Strehler sind für mich unvergesslich, so wie auch von Rudolf Noelte. Und wenn ich an die Gegenwart denke, dann hat mir vor Kurzem Elmar Goerdens Kafka-Inszenierung hier in der Josefstadt außerordentlich gut gefallen. Das hatte einen fantastischen Rhythmus, zeigte den ganzen Kafka.


Sie sind seit 52 Jahren beim Theater. Wo fühlen Sie sich dort zu Hause?

Im 19. Jahrhundert und nach der Jahrhundertwende – Tschechow, Schnitzler, allein wegen der Behandlung der Sprache. Was spätere Moden betrifft: Wenn das so geniale Leute wie Grüber, Neuenfels, Marthaler oder Castorf machen, hat das eine Sogwirkung, auch wenn ich es oft nicht verstehe. Das finde ich trotzdem oft wunderbar. Schlimm sind die Epigonen, die glauben, „Ulm“ zur Großstadt machen zu müssen. Das wird rasch zum Ärgernis. Aber richtig zu Hause habe ich mich in Berlin gefühlt.


Dort hatten Sie aber einen schweren Abschied, nach Ihrer Zeit als Generalintendant des Schillertheaters, des Schlossparktheaters und der Werkstatt, von 1985 bis 1990.

Ich wurde von einer gewissen Clique im Umfeld der Zeitschrift „Theater heute“ bereits angegriffen, ehe ich die Intendanz übernahm. Das legte sich bald, als das Schillertheater bummvoll war. Man hat mir bei der Vertragsverlängerung angeboten, eine Art Generaldirektor mit vier Intendanten unter mir zu werden. Ich lehnte ab, weil ich von den Fähigkeiten dieser „Viererbande“ überhaupt nicht überzeugt war und legte mein Amt zurück. Die Geschichte hat mir leider recht gegeben. Die Vier haben mit einer ungeheuren Hybris das größte Schauspielhaus Europas in zwei Spielzeiten von 84 auf 19,5 Prozent Auslastung heruntergespielt. Es wurde geschlossen. Fast 800 Arbeitsplätze wurden vernichtet. Wo blieb da die Verantwortung, politisch wie künstlerisch?


Hätten Sie sich auch einen völlig anderen Beruf vorstellen können?

Ja, natürlich. In die Wirtschaft bin ich sogar kurz gegangen, zu BMW. Das Zweite wäre die Politik gewesen. Wenn ich mir die Situation heute so ansehe, zum Beispiel zum Thema Flüchtlinge: Die Politiker geben sich völlig überrascht. Das ist ziemlich unverschämt.

Herr Sasse, darf man Sie auch fragen . . .

1 . . . ob Sie befürchten, dass wir in eine Phase des Theatersterbens kommen?
Nein. Aber wir werden uns von gewissen Formen verabschieden müssen. Jede Zeit sollte ihre eigenen Formen finden. Vielleicht haben bald große Häuser nicht mehr eine
so große Zukunft.


2 . . . ob Sie gelitten haben, wenn Sie Rollen nicht bekommen haben?
Ja, natürlich. Allerdings habe ich mir bei diesen Aufführungen später manchmal gedacht: Gut, dass ich nicht dabei war.


3 . . . ob Sie manchmal in Versuchung sind, sich aus einer Aufführung hinauszuschleichen?
Nein. Das mache ich deshalb nicht,
weil ich zu viel Respekt vor der Arbeit meiner Kollegen habe. Zwei Stunden Schande muss man oben wie unten als Theatermann schon aushalten können.

Steckbrief

28. 9. 1945
Heribert Sasse wird in Linz geboren, wächst in Wien auf. 1968 erste Rollen am Volkstheater, 1969 erste Regie in München. Es folgen Engagements an der Volksbühne und den Staatlichen Schauspielbühnen in Berlin, Graz, Düsseldorf und bei den Salzburger Festspielen. Ab 1976 Inszenierungen am Theater in der Josefstadt, am Volkstheater in Wien und an der Volksbühne Berlin. 1980 Intendant des Berliner Renaissance-Theaters, 1985 Generalintendant der Staatl. Schauspielbühnen Berlin, die er bis 1990 leitet. 1995 bis 2002 Intendanz d. Schlosspark-Theaters.


28. 9. 2015
Sasse-Solo „Die Leiden des jungen Werther“ ist diesen Montag im Theater in der Josefstadt zu sehen. (19.30 Uhr). Aktuell steht er auch in den Kammerspielen auf der Bühne, in „Aufstieg und Fall von Little Voice“, ab 15. Oktober in „Der nackte Wahnsinn“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2015)

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