Brigittenau: Wiens unbekanntester Bezirk

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Stefan Fuhrer hat jede einzelne Straße der Brigittenau fotografiert – auf der Suche nach „seltsamen kleinen Momenten, die eine Geschichte erzählen“.

Beine, die in der Brigittagasse aus einem Fenster baumeln. Eine Matratze in einer Wiese in der Engerthstraße, auf der offenbar jemand geschlafen hat. Eine tote Meise in der Innstraße. Auf Taubenspikes gestülpte Schuhe in der Wehlistraße. Manchmal, selten, Menschen, etwa schwarz verschleierte Frauen vor einem Brautmodengeschäft in der Hannovergasse. Oder auch die Bärenskulptur, die sich Stefan Fuhrer für sein Foto ausgesucht hat. In Summe ist das: ein illustrierter Straßenindex des (weitgehend ziemlich unbekannten) 20. Wiener Bezirks.

„Wenige Sehenswürdigkeiten, viele Gemeindebau-Burgen, offene Flächen, kaum Kultur“, charakterisiert Stefan Fuhrer die Brigittenau bei einem Kaffee im Café Brasil am Hannovermarkt, nur ein paar Fußminuten von der Friedensbrücke entfernt. „Normal. Nicht hier ein Beisl und dort ein hipper Shop“. Fuhrer kennt sich aus. Von A bis Z hat er hier alle 107 Straßen, Gassen und Plätze fotografiert. „Bei manchen hab ich mir schon gedacht, da find ich nix. Aber es war jedes Mal so, dass ich dann doch was gefunden hab.“

Das Ergebnis ist kein Reportageband, kein Gebäudeverzeichnis, sondern ein präziser Blick auf Details in jenem Bezirk, den er am wenigsten kannte. Wer sich einlässt, fühlt sich schnell wie in einer Rätselrallye: Was ist es im nächsten Bild, das Fuhrers Aufmerksamkeit erregt hat? Und was könnte dahinterstecken? Was Fuhrer sucht, sind „diese seltsamen kleinen Momente, die eine Geschichte erzählen“, wie er selbst sagt. Oder eher: „Anfänge von Geschichten, die sich jeder weiterdenken kann.“

Marrakesch und Hannovermarkt

Seit 1987 lebt der Schweizer Gestalter in Wien. „Ich wollte nach der Ausbildung ein Jahr weg und bin hängengeblieben.“ Dass es Wien wurde, war eher Zufall: Er hatte für New Wave Punks aus Budapest Konzerte organisiert – und wollte näher bei ihnen wohnen. Nur einmal flog er für ein Jobangebot zurück nach Zürich. „Aber es war so neblig und grau, dass ich abgelehnt habe.“

Mit Fotografie hatte er lange vor allem als Art Director in Agenturen zu tun. Erst ab dem Jahr 2007 begann er sich selbst intensiv damit zu beschäftigen. „Weil es ab da Kameras gab, die meinen Vorstellungen entsprochen haben.“ Mit seinem Designbüro arbeitete er damals viel im Kulturbereich, „wo das Geld für gute Fotografen oft einfach nicht drin ist“, weshalb er selbst zur Kamera griff.

Aus dieser Zeit stammt auch das Pseudonym aus seinem umgedrehten Namen, Nafez Rerhuf, das er bis heute verwendet. Dass aus dem „St“ dabei ein „z“ wurde, habe formale Gründe: „Es schaut besser aus.“ Dass es so auch ein echter Name ist, wurde ihm erst später klar. „Er dürfte vor allem im arabischen Raum verbreitet sein.“ Insofern passte der Name sogar ganz gut zum ersten Fotobuch (über Marrakesch), das Fuhrer vor eineinhalb Jahren herausgebracht hat. Bis heute ist es für ihn ein lustiges Spiel, zwischen den Namen hin- und herzuwechseln, „was auch immer das psychoanalytisch bedeuten mag“.

(Sich) unbefangen ein Bild machen

Tatsache ist: „Es hilft beim Fotografieren, ein Stück weit jemand anders zu sein.“ Weil er dann unbefangener sei, sagt Fuhrer, und das sei ja das Spannendste: „Sich ein unbefangenes Bild zu machen.“

Auch in Marokko hat er nicht gerade die Sightseeing-Ecken fotografiert. „Aber dort ist natürlich sofort dieses Exotische da.“ Just dem Essen nach der Buchpräsentation entsprang die Frage hinter dem neuen Projekt: Kann man ähnlich auch an einem Ort fotografieren, der nicht unbedingt per se schön ist? Die Antwort darauf ist jetzt im Street Index zu sehen, und vermutlich kommenden Sommer in einer Ausstellung bei Hilger in der Ankerbrotfabrik.

ZUR PERSON

Stefan Fuhrer stammt aus der Nähe von Zürich und lebt als Gestalter in Wien. Er ist für das „Presse“-Design verantwortlich. Als Nafez Rerhuf hat er den „Illustrated Street Index of Vienna 20“ (Metro Verlag) herausgebracht. Seit 2010 begleitet er Wien Modern fotografisch, Fotografien aus dieser Aktivität sind am 22. Oktober beim Warm-up zu Wien Modern in der Klavierwerkstatt Felix Lenz zu sehen – die er neu gestaltet hat. Schönbrunner Straße 25, 19.30 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2015)

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