Ohne ein Du wird keiner zum Ich

Caritas-Präsident Michael Landau: „Gott lässt auch die Fragmente gelten, den Versuch, im Heute anständig zu leben, so gut wir es eben können.“
Caritas-Präsident Michael Landau: „Gott lässt auch die Fragmente gelten, den Versuch, im Heute anständig zu leben, so gut wir es eben können.“Die Presse
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Der wahre Schlüssel zu einem geglückten Leben liegt nicht darin, sich nur um das eigene Glück zu kümmern. Wir sehen eine Renaissance der Zivilgesellschaft. Gerade zur rechten Zeit.

Mehr als 15.000 Menschen haben sich seit vergangenem Sommer bei der Caritas als Freiwillige gemeldet–zusätzlich zu den knapp 40.000 Freiwilligen bisher –, um für Menschen in Not da zu sein. Zehntausende haben an den Bahnhöfen, an den Grenzen und an vielen anderen Orten Großartiges geleistet. Sehr viele von ihnen tun es bis heute. Nicht aus politischem Kalkül, sondern, weil sie spüren, dass es jetzt auch auf sie ankommt. Schüler, Studierende, Senioren, Berufstätige in ihrer Freizeit. Sie reden nicht von Menschlichkeit und Solidarität, sondern leben diese Werte ganz konkret. Meist im Stillen. Meist abseits großer Bühnen und digitaler Foren. Diese Menschen machen das Potenzial der Anständigkeit deutlich, das in uns steckt. Der Möglichkeit nach in jedem von uns. Denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Im Gegenteil: Er stirbt am Brot allein.

Diese Renaissance der Zivilgesellschaft kommt gerade zur rechten Zeit. Denn wer die Nachrichten verfolgt, weiß: Unsere Welt hat Risse bekommen. Sie dreht sich deutlich schneller als noch vor wenigen Jahren. Die Nachrichten prasseln vielfach auf uns ein. Das Leid, der Hunger, die Kriege und die Krisen – all das scheint ein gewaltiges Stück näher als noch vor kurzer Zeit.

In einer Welt, die wir gern auch als globalisiertes Dorf bezeichnen, liegt Syrien im Vorgarten, die Ukraine in der Nachbarschaft, und das eigene Wohnzimmer teilt man sich mit mehr als einer Million Österreicherinnen und Österreichern, die arm oder akut armutsgefährdet sind. Diese Gleichzeitigkeit, das Unmittelbare – all das kann Ängste und ein Gefühl der Überforderung auslösen. Auch bei mir. Zwar nicht oft, aber doch von Zeit zu Zeit.

Entscheidend ist aber, wie wir mit diesem Gefühl umgehen. Wie und welche Lösungen werden wir finden? Welcher Weg führt uns weiter? Ich bin überzeugt: Wir alle können in unserem Umfeld konkrete Zeichen der Solidarität und Nächstenliebe setzen. Zumindest dann, wenn wir nach den Grenzen nicht auch noch unsere Herzen schließen. Wir sollten uns auf unsere Stärken fokussieren, statt uns von Ängsten treiben zu lassen. Nichts hemmt solidarisches Handeln mehr als Angst. Die vergangenen Tage, Wochen und Monate haben gerade deutlich gemacht: In einer zusammenwachsenden Welt braucht es auch eine Globalisierung des Verantwortungsbewusstseins. Verantwortung im Weltmaßstab, nicht nur für den Hausgebrauch. Denn ein geglücktes Leben gelingt nicht am anderen, an der anderen vorbei. Einfach schon deshalb, weil wir einander brauchen, weil wir unserem Wesen nach aufeinander verwiesen sind. Jede und jeder von uns. Von Geburt an. Bis hin zu unserem Tod.

Ohne ein Du wird keiner zum Ich. Das gilt auch global gesehen: Inseln von Wohlstand sind in einem Meer von Armut auf Dauer nicht stabil. Wir werden mehr teilen müssen, so hat Kardinal Christoph Schönborn vor ein paar Tagen erinnert. Denn die Welt ist für uns alle da, nicht nur für einige wenige.

Es geht also um Solidarität und Nächstenliebe ohne Wenn und Aber – um Nächstenliebe, die jene im Blick hat, die gerade in Not sind. Sie muss dem Fernen und Fremden ebenso wie unserem Nächsten und unserem unmittelbaren Gegenüber gelten. Da wie dort. Kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Wir benötigen Aufmerksamkeit. An den Rändern. An den Grenzen. Dort, wo Leben brüchig wird. Dann, wenn es um Hunderttausende Menschen in Österreich geht, die ohne Arbeit sind. Dort, wo Zehntausende Menschen – Männer, Frauen und Kinder – wie in Idomeni in Elendsquartieren ausharren.

Ich bin selbst Seelsorger in einem unserer Pflegewohnhäuser. Mein Glaube, vor allem aber das Gespräch mit Menschen, die ich dort begleite, machen mich sicher: Wir werden am Ende unseres Lebens nicht vor der Frage stehen, was wir verdient haben. Auch nicht vor der Frage nach unseren Titeln, Prestige in der Gesellschaft, so angenehm all das auch sein mag. Sondern wir werden vor der Frage stehen, ob wir aufeinander geachtet haben, füreinander da waren, ob wir als Menschen gelebt haben. Was zählen wird, sind die Taten, nicht die Theorien. Kriterium für die Taten aber sind die anderen.

Widerspruch wagen. Was bedeutet das konkret? Irgendwann wird der Tag kommen, da die Zahl der Flüchtlinge wieder zurückgehen wird, da hoffentlich vielleicht wieder weniger Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Wir sollten an jenem Tag X in naher oder ferner Zukunft auf das Hier und Heute in dem Wissen zurückblicken können, unser Bestes für Menschen in Not getan zu haben. Wir dürfen nicht schweigen, wo Menschen durch Menschen Unrecht geschieht. Nicht Unrecht mit Weihrauch beduften, sondern Widerspruch wagen, darum geht es. Auch, um die Welt ein Stück schöner, gerechter, menschenfreundlicher zurückzulassen, als wir sie vorgefunden haben.

Zum Leben gehören Versuch und Scheitern, Sieg und Niederlage dazu. Ich bin mir sicher, dass Gott mit beidem etwas anfangen kann, dass auch die Fragmente gelten, der Versuch im Heute anständig zu leben, so gut wir es eben können. Das ist ja auch der Kern der Osterbotschaft: dass das Leben am Ende stärker als der Tod ist, das Licht stärker als die Dunkelheit, dass nicht das Leid das letzte Wort hat, sondern das Leben und die Auferstehung.

Wie die vielen Tausenden Freiwilligen, die sich seit vielen Monaten engagieren, bin ich überzeugt: Der wahre Schlüssel zu einem geglückten Leben liegt nicht darin, sich nur um das eigene Glück, sondern gerade auch um das Glück der anderen zu sorgen. Wir werden den Weg bewältigen, auch wenn er steiler wird. Aber dazu ist es entscheidend, dass wir zusammenstehen und auf die Schwächsten nicht vergessen.

Zur PERSON

Michael Landau kam am 23. Mai 1960 als erstes Kind einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters, der 1939 aus Österreich geflohen und 1947 zurückgekehrt ist, zur Welt. Sein vier Jahre jüngerer Bruder, Daniel, ist u.a. Lehrer. Michael Landau studierte und dissertierte ab 1978 in Biochemie an der Universität Wien.

Während seiner Studienzeit trat er in die katholische Kirche ein und wurde 1980 getauft. 1986 begann er das Studium der katholischen Theologie in Wien und trat 1988 ins Priesterseminar ein. Er studierte später u.a. an der Päpstlichen Universität Gregoriana.

1992 wurde erin Rom zum Priester geweiht. 1999 schloss er das Studium der Theologie mit einem Doktorat ab.

1995 übernahm er die Leitung der Caritas Wien, seit November 2013 ist er Präsident der Caritas Österreich. Während Landaus Amtszeit wurde u.a. die Gruft als Betreuungszentrum für obdachlose Menschen in Wien übernommen und ausgebaut.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2016)

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