"Die angeborene Maske entfernen"

Sie hat als Erste die plastische Chirurgie künstlerisch genützt. Im November kommt Performance-Künstlerin Orlan nach Wien.

Wo immer Orlan auftritt, gibt es ein Raunen und Staunen ob ihres ungewöhnlichen Erscheinungsbilds. Denn die französische Künstlerin hat sich neun ästhetischen Operationen unterzogen, um ihren Körper nach Schönheitsidealen aus der Kunst geschichte umzuformen. Damit wurde sie zum Star der Body-Art. Sie selbst beschreibt ihre Methode als "Carnal Art" (Fleisch-Kunst) eine neue Form des Selbstporträts, umgesetzt mit Technologien der Gegenwart. Das so geschaffene Selbstbildnis ist Grundlage ihrer gesamten Kunst.

Ihr spektakulärstes Kunstwerk ist eine Serie von neun chirurgischen Eingriffen, durch die Sie Ihr Erscheinungsbild radikal haben verändern lassen. Was hat Sie veranlasst, das zu tun?

Meine ganze Kunst beschäftigt sich mit dem Stellenwert des Körpers in der Gesellschaft vor dem Hintergrund kultureller, traditioneller, politischer und religiöser Zwänge. Chirurgie an sich interessiert mich dabei nicht. Ich bin aber die erste Künstlerin, die die plastische Chirurgie zum Thema eines Kunstwerks gemacht hat. Diese Operationsperformances veranstaltete ich zwischen 1990 und 1993, um die Schönheitsstandards zu problematisieren, die den Körpern auferlegt sind. Sie waren ein Kunstwerk, um ein bestimmtes Aussehen im Sinn von Repräsentation anzunehmen.

Orlan/Documentary study : le Drap -le Baroque n 20, 1978/ Courtesy of the artist/Vienna Art Week.


Haben Sie noch weitere Operationen geplant?

Mir geht es nicht um Chirurgie. Ich bin Künstlerin, und ich glaube, ich habe das, was ich sagen musste, zum richtigen Zeitpunkt gesagt.

Was macht Ihre Operationen zu Kunstwerken?

Jeder der Operationen liegt ein Konzept zugrunde, um die angeborene Maske zu entfernen, ein neues Bild von mir zu modellieren und so neue Bilder zu produzieren. Dafür wurde der OP-Saal zum Atelier umgebaut. Meine Mitarbeiter trugen Kleider von Issey Miyake, Paco Rabanne und anderen. Ich habe Regie geführt und Kunst mit meinem eigenen Fleisch und Blut gemacht. Jede Fotografie wurde einzeln überarbeitet. Die "Omnipresence"-Performance wurde 1993 via Satellit in das Centre Pompidou und andere Institutionen übertragen. Alle meine Performances entstanden, um Kunstwerke in Form von Bildern und Videos zu produzieren.

Wie weit war im Zuge dieser kontinuierlichen Veränderung Kosmetik ein Thema?

Die Wahrheit der Natur hat für mich den gleichen Stellenwert wie Kosmetik. Aktuell betone ich beispielsweise meine beiden beulenförmig vorstehenden Schläfenimplantate mit Glitzer-Make-up. Mich interessiert der Mix von richtig und falsch, echt und künstlich. Bei meinen OP-Performances benutzte ich eine Schale mit echtem Hummer und echten Früchten und eine zweite mit Plastikimitaten.

Wenn heute von chirurgischen Veränderungen am Körper ohne medizinischen Nutzen die Rede ist, stehen dahinter meist kosmetische, zunehmend aber auch geschlechtsüberschreitende Motive. Wie weit beschäftigt Sie das Transgender-Thema?

Ich habe einmal gesagt: "Ich bin ein Frau und eine Mann." Ich mische also Geschlechterzuordnungen über die Grammatik auf. In diesem Sinn ist die Transgender-Thematik inhärenter Teil meiner Arbeit.

Wie sehr tangiert Sie das Altern des Körpers? Stört es Sie? Interessiert es Sie künstlerisch?

Altern und Tod sind schreckliche Seuchen. Die Religionen erwarten von uns, dass wir sie akzeptieren. Sie sind aber nicht akzeptabel, sie sind eine Qual. Was das Altern betrifft, gibt es ja jede Menge Innovationen, die es leichter machen. Gegen den Tod habe ich hingegen eine Petition verfasst: "Genug ist genug! Es dauert schon viel zu lang! Es muss aufhören! Ich bin dagegen, dass ich sterbe, ich bin dagegen, dass meine Freunde sterben! Lasst es uns zusammen versuchen, wir müssen eine Chance bekommen. Ja, es ist möglich, eine Chance zu bekommen, wenn ihr Nein sagt! Wenn ihr hier alle zusammen ohne Ausnahme Nein schreibt."

Die Petition findet sich auch auf Ihrer Website und wurde bis jetzt fast tausendmal unterzeichnet. Für wen ist sie bestimmt?

Die Petition ist ein humorvoller und poetischer Versuch, den Gegebenheiten zu entkommen. Sie gehört zu einer gleichnamigen Bilderserie und richtet sich an alle. Die Unterschriften sind ein Akt der Ablehnung dieser auferlegten Situation.

Courtesy of the artist 1991 und 2014/Vienna Art Week

Welchen Stellenwert hat für Sie der Körper in der heutigen Zeit?

In der Arbeit "Incidental Strip-tease Using Sheets" habe ich mich 2003 als Geschundene dargestellt ohne Haut, ohne diese letzte Schicht, die die Schnittstelle zur Welt darstellt. Diese Arbeit ist ein Manifest: eine Künstlerfigur, die sich schinden muss, um Kunst zu machen. Ohne die schützende Barriere der Haut werden wir für die Welt durchlässig. Hier wird die Welt zur Haut des Künstlers. Der 3-D-Avatar nimmt langsam die Rolle der Freiheitsstatue an. Freiheit ist für den Künstler und uns alle wichtig. Sie wird aber von politischen und religiösen Zensoren immer wieder infrage gestellt, vor allem wenn es um den Körper und seine Repräsentation geht.

Was treibt die Menschen an, schön sein zu wollen?

Schönheit ist eine Art vorgefertigter Zwang, der von den jeweils herrschenden Ideologien ausgeübt wird. Alle Kulturen haben versucht, die Körper und das Denken zu formen. Nachdem ich mein Erscheinungsbild neu gestaltet hatte, schuf ich Kunstwerke, die ich "Selbsthybridisierungen" nannte: Bilder meines Gesichts, verschränkt mit nicht westlichen kulturellen Bezügen wie kolumbianischen, afrikanischen und indianischen Motiven, zuletzt Masken der Peking-Oper. Diese Bilder machen bewusst, wie sehr wir Opfer der gegenwärtigen politischen, geografischen und historischen Zwänge sind. Meine afrikanische "Selbsthybridisierung"-Serie etwa ist Schwarz-Weiß. Damit beziehe ich mich auf die Frühzeit der Fotografie, als wir angefangen haben, das "Andere" zu fotografieren. Wir sehen eine Frau, die sich ihrer Anziehungskraft sehr bewusst ist und voller Stolz ein riesiges Piercing trägt, vielleicht das größte ihres Stamms. Wären wir in diesen Stamm hineingeboren worden, müssten wir auch Riesenpiercings tragen, um begehrt zu werden. Würden wir hingegen hier und jetzt ein solches tragen, würde man uns für Monster halten, sicherlich nicht für begehrenswert.

Wer gibt in unserer Gesellschaft die Schönheitsideale vor?
Unsere Gesellschaft hasst das Fleisch. Es ist, als gäbe es eine Verpflichtung zur Magersucht. Die Models, die auf den Laufsteg geschickt werden, werden immer jünger. Sie werden natürlich hergerichtet, ihre Bilder mit Photoshop bearbeitet. Neulich kam in Italien eine Debatte auf, weil eine gewählte Miss Größe 40 trug.

In einer Reihe von Skulpturen haben Sie sich selbst reproduziert, auch viele Ihrer Bilder tragen Ihr Gesicht. Warum?

Ich habe oft mit meinem Körper und meinem Gesicht gearbeitet. Es gibt aber auch Arbeiten, die nichts mit der Darstellung meiner selbst zu tun haben, große Installationen etwa zum Thema Immigration oder die hybridisierte indisch-französische Flagge.

Courtesy of the artist 1991 und 2014/Vienna Art Week

Noch einmal zu den OPs: Sie haben darin den Schmerz gleichsam auf sich genommen fast wie Christus in der Passion. Welche Rolle spielt dieses Kapitel Kulturgeschichte für Sie?

Gott ist für mich keine Arbeits- oder Lebenshypothese. Schmerz ist ein Anachronismus. Jahrtausende mussten die Körper Kopf- oder Zahnschmerzen ohne Aspirin ertragen. Die Religion hat sogar versucht, den Schmerz zu erhalten, indem sie ihn zum Fegefeuer auf Erden erklärt hat. Die christliche Religion ist gegen die körperliche Lust eingestellt und hat viele Körper gequält. Sie wurde wie andere Religionen von Männern für Männer erfunden, um die eigene Vormachtstellung zu bewahren. Meine erste Abmachung mit dem Chirurgen war immer: keine Schmerzen während und nach der Operation. Alle Eingriffe fanden unter Lokalanästhesie statt, mit kleinen Pieksinjektionen, wie beim Zahnarzt.

Vienna Art Week

Orlan tritt. im Rahmen des Schwerpunkts "Seeking Beauty" der Vienna Art Week am 15.11 im MAK auf. www.viennaartweek.com

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