„Ich schlief im Bauch einer Maschine“

„Meine Großmutter sang für mich Gute-Nacht-Lieder auf Deutsch“, erinnert sich Paolo Rumiz.
„Meine Großmutter sang für mich Gute-Nacht-Lieder auf Deutsch“, erinnert sich Paolo Rumiz.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

Der italienische Journalist und Reiseautor Paolo Rumiz erzählt, warum er auf eine unbewohnte Insel zog und ihm dort nie langweilig war. Er spricht über eine verlorene Mittelmeerkultur, die vielen Gesichter Triests und seine Oma, die die k. u. k Monarchie vermisste, Italien aber sehr sympathisch fand. Und er schildert, wie eine Radreise nach Wien seinen Schreibstil veränderte.

Warum beschlossen Sie, mehrere Monate in einem Leuchtturm auf einer unbewohnten Mittelmeerinsel zu leben?

Paolo Rumiz:Ich hatte schon lang von einem Aufenthalt auf einer unbewohnten Insel geträumt, hatte mir in Gedanken versucht vorzustellen, wie das sein könnte, so zu leben. Im März 2014 war der richtige Zeitpunkt gekommen, um diesen Traum zu realisieren: Ich hatte gerade meine Dokumentation über den Ersten Weltkrieg beendet, war gemeinsam mit einem Regisseur von Frontlinie zu Frontlinie gereist. Wir hatten zehn Filme produziert. Diese Reise hatte all meine Energien geraubt. Ich war müde, erschöpft. Und so ging ich zu den Kollegen der „Repubblica“, für die Zeitung verfasse ich regelmäßig Reisereportagen. Ich schlug ihnen vor, über ein Leben in einem Leuchtturm auf einer unbewohnten Mittelmeerinsel zu schreiben. „Leute, ich bin müde“, sagte ich ihnen. Sie waren ziemlich skeptisch: Was sollte in einem Text über einen Ort stehen, an dem nichts passiert? Aber sie akzeptierten.

Und Sie selbst hatten keine Angst, sich auf der Insel zu langweilen?

Natürlich machte ich mir Sorgen. Ich hatte regelrechtes „Reisefieber“. Sicherheitshalber packte ich etwa zwanzig dicke Bücher ein, auch Antidepressiva hatte ich im Gepäck. Aber auf der Insel habe ich das alles nicht gebraucht. Ich habe kein Buch aufgeschlagen und keine einzige Tablette geschluckt. Keinen Hauch von Melancholie verspürte ich, langweilig war mir schon gar nicht. Ich hatte gar keine Zeit dazu. Ich war ständig beschäftigt. Ich musste meinen Alltag organisieren, kochen, putzen, die Insel erforschen. Und ich musste all die vielen Dinge, die auf der Insel passierten, aufzeichnen. Ich schrieb über die sich ständig verändernden Farben des Meeres; über das Licht, über die Gerüche, die Windrichtungen. Ich war stets fokussiert, konzentriert, oft auch nachts.

Wie waren diese Nächte im Leuchtturm?

Ich schlief ja im Bauch einer Maschine, deren Zweck es ist, in der Nacht zu funktionieren. Ich fühlte mich wie ein Mäuschen im Uhrwerk eines Glockenturmes. Diese Nächte waren wichtig: Um einen Ort zu verstehen, muss man dort übernachten. Das hatte ich bei meiner Recherchereise zum Ersten Weltkrieg gelernt: Ich übernachtete damals zweimal auf Soldatenfriedhöfen und in diesen Nächten schrieb ich die wirklich realitätsnahen Texte. Im Leuchtturm ging es mir ähnlich, ich füllte in manchen Nächten mehrere Notizblöcke.

Wie haben Sie die Einsamkeit ertragen?

Die Insel veränderte mein Denken, sie schärfte meine Wahrnehmung. In mir wurde ein antiker Mensch wach, mit Ritualen und Aberglauben. An einem Abend färbte ein berauschender Sonnenuntergang meine grüne Insel golden. Am Horizont stürzten sich Tausende Möwen der untergehenden Sonne entgegen, ihrem ohrenbetäubenden Schrei folgte plötzlich Stille. In diesem Moment war ich aller Vernunft zum Trotz überzeugt: Die Möwen beweinten den Tod der Sonne und flehten sie an, am nächsten Tag zurückzukehren. Dadurch entstand bei mir ein Gefühl, dass es für nichts eine Garantie gibt. Diese Unsicherheit hat meinen Verantwortungssinn gestärkt. Ich wollte auf der Insel vor der Welt flüchten – und jetzt war ich mitten drin in der Welt.

Und Sie hatten keinen Internetanschluss.

Das Schweigen des Internets war wie ein Befreiungsschlag. Ich nahm meine Umwelt schärfer wahr, hörte wieder hin, beobachtete genauer. Und ich entdeckte einen Freund aus meinen Zeiten als Kriegsreporter wieder: das Radio. Ich hörte darin Stimmen in den unterschiedlichsten Sprachen des Mittelmeers – Kroatisch, Arabisch, Türkisch, Maltesisch. Stimmen, die ich großteils nicht verstand. Sie zeichneten eine Landkarte dieses unruhigen Meeres.

Sie beschreiben in Ihrem Buch das Mittelmeer auch als Ort der Begegnung, mit eigener „Sprache“, Küche, Kultur und Normen. Doch das Mittelmeer ist heute doch vor allem Ort der Flüchtlingstragödien, man spürt deutlich die unsichtbare Grenze, die geografisch, kulturell, politisch, religiös das nördliche und südliche Mittelmeer trennt.

Bis in die 1960er-Jahre gab es im ganzen Mittelmeerraum multikulturelle, laizistische Zentren. Handelsmetropolen, in denen genau diese religions- und kulturübergreifende „Mittelmeeridentität“ gelebt wurde, über die ich schreibe. Hier vermischte sich arabische, jüdische, levantinische, europäische Kultur. Ich denke an Städte wie Casablanca, Istanbul, Agadir, Algier, Beirut – Aleppo. Diese Zentren wurden sukzessiv zerstört, eine Stadt nach der anderen. Das ist kein Zufall: Die Multiidentität dieser Metropolen, ihr materieller Reichtum, ihre Vielfalt, ihre Weltoffenheit galten als Teufelswerk.

Aber Eroberungen, Religions- und Kulturkonflikte prägten immer schon die Geschichte des Mittelmeers.

Ja, früher bekämpfte man einander intensiver, man war ständig im Krieg. Aber man kannte sich auch viel besser. Sogar zu den Zeiten der Seeschlacht von Lepanto im 16. Jahrhundert, als die christlichen Mittelmeermächte das Osmanische Reich besiegten, wussten die Venezianer viel mehr über die Türken als wir Europäer über die Türkei heute. Vor und auch nach der Schlacht von Lepanto standen die Venezianer im Dienste der Sultane. Sie schrieben Bücher für sie, verfassten Atlanten. Der Austausch war rege.

Sie sind aus Triest, einer Stadt, die stets zwischen den Kulturen stand. Ist für Sie Mitteleuropa näher oder das Mittelmeer?

Als Triestiner lebt man den wunderbaren Widerspruch, gleichzeitig ein bisschen Österreicher und Italiener zu sein, ein Europäer aus dem Mittelmeerraum und aus Zentraleuropa. Und man verkörpert das Beste beider Welten. Dieses Gefühl hat mir meine Großmutter vererbt. Sie sprach Italienisch und Dialekt, sang die Gute-Nacht-Lieder aber auf Deutsch, einer Sprache, die ich nicht verstand. Sie liebte alle, die Italiener, die Österreicher, die Slawen. Sie wurde nostalgisch, wenn sie von Österreich sprach: Österreich war einfach Österreich, sagte sie dann. In diesem Seufzer war alles drinnen: die Sehnsucht, aber auch diese Erinnerung an Effizienz, Sauberkeit, bessere Gehälter. Aber Italien, sagte sie dann, ist sympathisch: Italien war in der Zeit, als sie jung war, auch eine junge Nation, ohne diesen ewig sterbenden Kaiser. Die Familie meiner Mutter schaute immer ein wenig auf meinen Vater herab, weil er „nur“ Italiener war, ohne die k. u. k Komponente der Triestiner. Als Triestiner ist es besonders schmerzhaft zu sehen, wie heute in Europa positiv gelebte Multiidentitäten offen infrage gestellt werden.

Gibt es eine neue Österreich-Nostalgie? Bewegungen in Triest fordern die Abspaltung von Italien.

In Triest findet derzeit eine Mythisierung der Vergangenheit statt, vielleicht weil Triest früher eine zentralere Bedeutung hatte als heute. Diese Verherrlichung wird zu politischen Zwecken missbraucht. Da werden Identitäten geschaffen, die nichts mit der wahren Vergangenheit zu tun haben.

Und was bedeutet Wien für Sie?

Wien ist für mich wie ein Tor, eine Schwelle: Die Welt, die mich interessiert, beginnt östlich von Wien. Dort ist das Abenteuer. Als ich 2008 eine Reise entlang der EU-Grenzen machte, wurde mir schnell klar: Sobald ich die EU verließ, geschah Interessantes, die Zeit verging langsamer – und mein Notizbuch füllte sich schneller. Sobald ich wieder in die EU zurückkam, verging die Zeit schneller, es war schwieriger, Kontakte zu Menschen zu knüpfen.

Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu Wien?

Das wird von einer ganz besonderen Reise geprägt: Als mein Sohn 16 Jahre alt war, radelte ich mit ihm von Triest nach Wien. Er hatte mich um eine gemeinsame Reise gebeten. Der Vater seines Schulfreundes war unerwartet gestorben, das war ihm sehr nahe gegangen, er wollte Zeit mit mir verbringen. Es war eine intensive, physisch anstrengende Reise – wir haben Wien mit unseren eigenen Kräften erobert. Wenn die Distanz einer Reise an den eigenen Beinen spürbar wird, prägt dieses Gefühl auch die Erinnerung an die Orte. Seitdem hat Wien für mich einen neuen Geschmack.

Ein Magazin publizierte den Artikel über diese Reise, der Text war sehr erfolgreich, seitdem schreiben Sie vor allem Reisereportagen und Bücher. Was geschah damals?

Auf dieser Reise lernte ich, besser zu schreiben. Ich lernte, im Rhythmus der Fahrbewegung zu schreiben. Ich notierte sogar Dinge, während ich in die Pedale trat: Ich beschrieb sich verändernde Farben, Gerüche, Eindrücke. Es war eine volle Immersion in die Welt.

Herr Rumiz, darf man Sie auch fragen, ...


1. . . ob Sie etwas Bestimmtes von Ihrem Aufenthalt auf der Insel vermissen?

Ich vermisse den „Zyklopen“, den einäugigen Esel, der inzwischen leider gestorben ist. Jeden Morgen bürstete ich ihn. Das gefiel ihm, er sang dann richtig. Er aß am liebsten Zitronen.


2. . . ob Sie sich an Ihre allererste Reise erinnern?

1954, die Reise ging nach Duino. Ich war sechseinhalb [Triest war 1947-1954 Hauptstadt des auf Initiative der Alliierten gegründeten „Freien Territoriums Triest“, 1954 wurde die Stadt wieder Teil Italiens]: Wir warteten an der (damaligen) Grenze auf die italienischen Truppen. Mein Vater hatte mich in eine Decke gehüllt. Und dann kamen die Bersaglieri mit ihren tollen Federhüten.


3. . . ob es ein Buch gibt, das Sie zum Schreiben über Reisen inspiriert hat?

„L' usage du monde“ von Nicolas Bouvier.

Steckbrief

Kriegsreporter.
Paolo Rumiz wurde 1947 in Triest geboren. Er begann als Reporter beim „Il Piccolo“, wechselte dann zur Tageszeitung „La Repubblica“. Er schrieb Reportagen über die Auflösung Jugoslawiens, 2001 berichtete er aus Afghanistan. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Preise.

Reiseschriftsteller.
Seit 1998, nach einer Radreise mit seinem Sohn nach Wien, schreibt Rumiz Reisereportagen über seine Wanderungen durch Europa. Er überquerte unter anderem den Apennin mit einem Topolino, fuhr die Donau entlang. Seine Reportagen in „La Repubblica“ sind in Italien sehr beliebt, seine Bücher Bestseller.

Der Leuchtturm.
2014 lebte Rumiz drei Monate in einem Leuchtturm auf einer kleinen Mittelmeerinsel, deren Namen er nie verraten hat. Das Buch über seinen Aufenthalt wurde in Italien auch verfilmt. Auf Deutsch ist „Der Leuchtturm“ jetzt im FolioVerlag erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2017)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.