„Trauer geht nicht weg, aber sie verändert sich“

Saskia Jungnikl, Jahrgang 1981, schreibt über ihre Erfahrung mit dem Tod.
Saskia Jungnikl, Jahrgang 1981, schreibt über ihre Erfahrung mit dem Tod. (c) Rafaela Proell
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Zuerst der Bruder, dann der Vater. Autorin Saskia Jungnikl hat in jungen Jahren viel Erfahrung mit dem Tod gemacht.

Ihr älterer Bruder ist vor 13 Jahren sehr plötzlich gestorben, Ihr Vater hat sich vier Jahre später das Leben genommen, gerade erst war sein neunter Todestag. Auf Ihrem Facebook-Profil haben Sie an diesem Tag geschrieben, dass man Trauer manchmal einfach aushalten muss. Aber wie?

Saskia Jungnikl: Indem man sie zulässt. Trauer ist ein Gefühl, und so wie alle anderen Gefühle muss und kann man sie aushalten. Manchmal braucht es kein gutes Zureden und keine Aufmunterung, manchmal ist man traurig, und das ist auch okay. Es herrscht gemeinhin der Druck, möglichst schnell über Trauer hinwegzukommen. Als könne man eine bestimmte Zeit traurig sein, weil man einen geliebten Menschen verloren hat, und dann ist das plötzlich vorbei. So funktioniert das nicht. An manchen Tagen vermisse ich meinen Vater und meinen Bruder, vor allem an solchen Jahrestagen. Da kann es auch guttun, wenn man sich selbst nicht dazu zwingt, die Trauer sein zu lassen, sondern sich Zeit und Raum dafür gibt. Die Trauer darf nur nicht unser Leben dominieren.

Sie haben zwei plötzliche Todesfälle von nahen Angehörigen erlebt. Wie würden Sie Ihre Beziehung zum Tod beschreiben?

Diese plötzlichen Tode haben mir gezeigt, wie wahnsinnig fragil ein Leben ist. Es war sehr schwer für mich, wieder Vertrauen und Zuversicht aufzubauen und diese neu entstandene Angst vor dem Tod abzulegen. Das ist geglückt, und heute geht es mir sehr gut, aber ich bin mir schon immer auch dessen bewusst, dass sich alles innerhalb von Sekunden verändern kann und wie wichtig es deshalb ist, Kleinigkeiten bewusst wahrzunehmen und wertzuschätzen.

Wenn Sie das vergangene Jahrzehnt Revue passieren lassen, welche (Trauer-)Phasen gab es da wann?

Nach dem Tod meines Bruders, aber vor allem nach dem Suizid meines Vaters war da vor allem Fassungslosigkeit. Die richtige Trauer kam erst. In den ersten Wochen dachte ich manchmal, ich stecke in einem Film fest, das alles passiert nicht mir, das kann gar nicht sein. Dann sickert immer mehr Bewusstsein ein, und man fängt an, sich der veränderten Welt zu stellen. Da war viel Schmerz, Verzweiflung, auch Wut. Diese erste Zeit der Trauer ist sehr anstrengend. Man nimmt Stück für Stück Abschied und orientiert sich um. Das ist gerade bei plötzlichen Todesfällen sehr schwierig. Und es ist ja nicht so, dass man ständig traurig ist. Aber manchmal reicht ein Geruch, ein Lied, plötzlich kommt etwas und holt einen ein. Das lässt dann langsam nach, und je mehr Zeit vergeht, desto weniger kann einem die Trauer den Boden wegziehen. Heute kann ich mit Trauer leichter umgehen. Ich bin in manchen Momenten traurig, aber ich weiß, dass es wieder aufhört – oder kann mich leichter daraus befreien.

Menschen, die völlig unvorbereitet vom Tod eines nahen Angehörigen getroffen werden, glauben, ihr Leben wird nie wieder so, wie es einmal war, und vor allem nie wieder gut werden. Was würden Sie jemandem in dieser Lebenssituation sagen?

Ich würde anerkennen, dass derjenige in einer schweren Situation ist. Die Zeit unmittelbar nach einem Todesfall ist furchtbar und jeder, der darin steckt, braucht Zeit und Geduld – von anderen und mit sich selbst. Trauer geht nicht weg, aber sie verändert sich. Trauer ist ein Grundgefühl, das wir in uns tragen. Meine Mama hat einmal gesagt, bei ihr ist es wie bei einem Boden, auf den Laub fällt. Dieses Laub besteht aus Zeit und schönen Momenten, Gesprächen. Je mehr Laub fällt, desto weniger Schmerz und Trauer. Dann kommt manchmal ein Windstoß, wirbelt das Laub auf, und die Trauer ist wieder sehr präsent. Ich hatte viele Momente in meinem Leben, in denen ich dachte, ich schaffe das nicht. Ich kann nie wieder ein Leben in Glück und Zufriedenheit führen. Aber heute tue ich das. Ich bin sehr glücklich, und es geht mir sehr gut. Und an manchen Tagen bin ich sehr traurig und weine um meinen Vater und meinen Bruder.

Sie beschäftigen sich nach Ihrem Debütbuch „Papa hat sich erschossen“ (2014) nun auch in Ihrem zweiten Buch mit dem Tod und wie Sie die Angst davor überwunden haben. Wie haben Sie das gemacht?

Was mir nach den Todesfällen geblieben ist, war große Angst, ja richtige Panik vor meinem eigenen Tod. Ich habe versucht, das zu ändern, indem ich eine Art Konfrontationstherapie begonnen und den Tod in unserer Gesellschaft aufgesucht habe. Ich war im Leichenschauhaus, habe mit Forschern darüber geredet, warum der Mensch sterben muss, habe mich damit beschäftigt, was Religionen sagen, wie der Tod in der Philosophie behandelt wird, wie sich die Bestattungskultur verändert, wie man gut altert, ich habe mit einer Trauerberaterin Listen erstellt, wie man Menschen in Trauer helfen kann und wie man selbst mit Trauer umgehen kann. Ich war zwei Jahre lang wie auf einer Reise, wo ich die verschiedensten Aspekte zum Thema Tod behandelt habe. Und dann war es eigentlich viel mehr „eine Reise ins Leben“, wie jetzt der Titel auch passenderweise heißt.

Sheryl Sandberg schreibt in ihrem Buch über den Umgang mit dem plötzlichen Tod ihres Mannes, es sei besonders wichtig, sich keine Schuld zu geben an dem, was passiert ist, und offen darüber zu reden. So komme man schneller weiter. Hat sie recht?

Gerade bei einem Suizid steht die Schuldfrage verstärkt im Raum. Ich glaube nicht, dass es Schuld gibt. Nach einem Todesfall tauchen so viele Gefühle auf, mit denen man umgehen lernen muss, und da ist es schon okay, auch die Schuldfrage durchzuspielen. Wichtig ist zu verstehen, dass es diese eine Schuld nicht gibt. Und reden hilft immer. Bei allem.

Was hat Ihnen geholfen in der Anfangsphase der Trauer?

Mir hat vor allem geholfen, in der Familie und mit Freunden darüber reden zu können. Und dass ich mich von dieser eigenen Erwartungshaltung befreit habe, nämlich anzunehmen, ich müsste die Trauer nur durchlaufen, und dann kann ich wieder so weiterleben wie zuvor. Wenn Menschen sterben, die wir lieben, dann prägt uns das, und es verändert uns. Wichtig ist, dass wir unser Leben nicht davon bestimmen lassen und wir darauf vertrauen, dass es wieder besser wird. Denn das wird es. Ich bin heute wieder sehr glücklich. An manchen Tagen vielleicht allein deshalb, weil ich diese schrecklichsten Phasen in meinem Leben gemeistert habe und mir das Zuversicht gibt.
Im Oktober erscheint Saskia Jungnikls zweites Buch „Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, die Angst vor dem Tod zu überwinden“ bei Fischer. AWA

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2017)

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