Krebsarzt: "Menschen verblüffen mich immer wieder"

Krebsarzt Menschen verblueffen mich
Krebsarzt Menschen verblueffen mich(c) Michaela Bruckberger
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Christoph Zielinski spricht mit der "Presse" über die verschiedenen Arten des Lebens und des Sterbens. Und unter welchen Voraussetzungen Krebspatienten den Alltag gut leben und dem Tod ins Auge blicken können.

Es gibt diese Theorie von Elisabeth Kübler-Ross, wonach sich das Sterben in fünf Phasen abspielt – vom Verleugnen über die Auflehnung bis hin zur Akzeptanz. Deckt sich das mit Ihren Beobachtungen als Arzt?

Christoph Zielinski: An dieser Theorie ist schon etwas dran. Wobei natürlich nicht alle Menschen jedes Stadium durchmachen. Es gibt Patienten, die bis zur allerletzten Minute kämpfen. Die nie aufgeben, sich nie abfinden – und die der Tod letztlich regelrecht übermannt: Diese Menschen leben eben bis zum Schluss ihre Stärke aus.

Sie formulieren das positiv! Sonst sagt man doch eher: Er hat nicht loslassen können?

Fürs Sterben wird kein Seminar angeboten – und es gibt auch kein Zeugnis.

Erleichtert Ihrer Beobachtung nach der Glaube an ein Jenseits das Sterben?

Überhaupt nicht. Es gibt sicher eine Vielzahl von Dingen, in denen man Trost finden kann, in denen ein Mensch verankert ist – das muss aber keine Glaubensphilosophie sein. Ich stelle mir das sogar eher beunruhigend vor, wenn mir eine posthume Abrechnung in Aussicht gestellt wird – und diese Abrechnung kennen die meisten Religionen, wenn nicht gleich nach dem Tod, so doch spätestens beim Jüngsten Gericht. Da nehme ich doch lieber an, dass mit dem Tod endlich mit den Abrechnungen Ruhe ist.

Die meisten Menschen finden sich doch eh ganz okay! Ich kenne keinen, der befürchtet, in der Hölle zu landen.

Das glaube ich nicht, sonst wäre mit der Angst nicht so ein Geschäft zu machen – und das über viele Jahrhunderte hinweg. Wenn die Menschen das Gefühl hätten, mit ihnen sei alles in Ordnung, müsste ihnen ja auch nicht vergeben werden, weder individuell noch kollektiv. Mit dem Konzept der Schuld, mit der konstanten Strafandrohung wird seit Jahrtausenden die Disziplinierung der Menschen betrieben. Denken Sie nur an die Gemälde von Hieronymus Bosch. Ich habe auch immer wieder erlebt, dass Menschen eine Schmerztherapie ablehnen – weil sie so meinen, so leiden zu müssen wie Christus am Kreuz: die Sünden abbüßen.

Es wird derzeit mit einiger Vehemenz eine Debatte über die immer teurer werdende Krebstherapie geführt. Nach dem Motto: Was bringen die Medikamente im Vergleich zu dem, was sie kosten? Wann ist das Leben noch lebenswert?

Es gibt eine Statistik aus den USA, nach der an die 20 Prozent der Krebserkrankten sich selbst im finalen Stadium für eine Behandlung entscheiden würden – wenn nur die geringste Aussicht auf Veränderung des Krankheitsverlaufs bestünde. Ich finde, dass Entscheidungen zur Finanzierung von Medikamenten von Gremien getroffen werden sollten, in denen tatsächlich Kranke die Mehrheit haben. Aber die Diskussion läuft in eine andere Richtung: Wir leben leider in einer Welt, in der die Dummheit unausgesetzt versucht, Komplexität so weit zu reduzieren, bis sie zu ihrem eigenen Niveau passt.

Ich denke, dass man sich in Extremsituationen einfach nicht hineinversetzen kann. Dass man sich als Gesunder denkt: So möchte ich nicht leben wollen und wenn man dann selbst in der Situation ist?

Meiner Beobachtung nach können Patienten, solange sie schmerzfrei sind und ordentlich versorgt werden, ihren Alltag durchaus zufrieden leben – und auch dem Tod ins Auge blicken. Ich glaube, es haben sich im kollektiven Gedächtnis falsche Bilder eingebrannt. Ich denke da konkret an das Sterben von Diktatoren wie Franco oder Tito: Sie waren beide praktisch tot, wurden aber vor den Augen der Weltöffentlichkeit noch über Wochen künstlich am Leben gehalten. Das ist in den 70er-Jahren passiert, aber diese Bilder prägen die Menschen noch heute. Dabei kenne ich kaum eine Intensivstation, die einen terminalen Krebspatienten aufnehmen würde – also einen Patienten, dem ich nach der Intensivstation keine sinnvolle Therapie mehr anbieten kann. Jemanden auf eine Intensivstation zu verlegen, ist letztlich eine Maßnahme zur Überbrückung: Sie dient dazu, eine schicksalshafte Entwicklung durch eine Serie von medizinischen Maßnahmen abzuwenden. Bei einem austherapierten Krebspatienten kann ich leider nichts mehr abwenden.

Immer mehr Menschen setzen Patientenverfügungen auf.

Was mir das Leben immer wieder gezeigt hat: Man kann sich nicht ausfürchten – es ist nicht möglich, sich alle Dinge vorzustellen, vor denen man sich fürchten kann und die einem zustoßen könnten. Das kann auch der Gesetzgeber nicht. Man kann nicht auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Man kann mit einer Patientenverfügung einiges regeln, aber letztlich muss ich darauf vertrauen, dass der, in dessen Hände ich mich begebe, in meinem Sinne handelt.

Haben Sie zu allen Patienten die gleiche Beziehung?

Ich bedaure, dass das nicht so ist. Zu manchen Patienten entwickle ich eine Nähe, die ich bei anderen nicht zulasse. Wobei, wenn es um die Behandlung geht, diese Nähe unbedingt der Objektivität Platz machen muss. Diese Objektivität herzustellen, bedeutet auch emotionale Arbeit – aber ohne sie kann man nicht arbeiten. Ich möchte das mit einem Beispiel aus der Kunst erklären: Es gibt zwei Formen der Pietà: Diejenige, wo Maria ihren toten Sohn betrauert wie bei Michelangelo. Und jene Darstellungen, die zeigen, wie die Mutter nicht einfach dasitzt und weint, sondern ihr sterbendes Kind stützt. Wir Ärzte müssen stützen. Wir müssen Stärke vermitteln.

Sie haben einmal erwähnt, dass Sie froh sind, kein Kinderarzt zu sein.

Ich bewundere Kinderärzte, vor allem, wenn sie sehr schwer verlaufende Fälle zu behandeln haben. Wenn ich einen Erwachsenen berate, ist mein Vis-à-Vis auch immer zugleich der, den ich behandle. Die Entscheidungen, die er trifft, trifft er für sich selbst. Bei Kindern sitzen Sie den Eltern gegenüber, die legen fest, was ihrer Ansicht nach am besten ist – die Folgen dieser Entscheidungen treffen aber nicht sie selbst, sondern das Kind. Das muss man als Arzt akzeptieren können, und ich weiß nicht, ob ich das immer so gut könnte.

Wie hoch ist der Prozentsatz der Zeit, die Sie mit den Patienten verbringen?

30 bis 40 Prozent. Früher waren es noch weit mehr. Nach all den vielen Patienten, denen ich begegnet bin, und allen Reaktionen, die ich miterlebt habe, könnte man meinen, ich hätte alles schon gesehen. Aber das stimmt nicht. Das ist einfach nicht der Fall. Die Menschen verblüffen mich immer wieder.

Nennen Sie mir ein Beispiel?

Ein Mann, dessen Frau gestorben ist: Er ist ins Badezimmer des Spitals gegangen, wo auf einem Regal die Kosmetikartikel aufgereiht standen. Und er hat sie mit einer Handbewegung in den Papierkorb gefegt. Das hätte ich nie erwartet. Dieses Bild hat sich mir eingeprägt.

Angeblich werden optimistische Naturen eher wieder gesund. Beeinflusst die Lebenseinstellung den Heilungsprozess?

Papperlapapp! Sanguiniker, Hysteriker, Melancholiker, Phlegmatiker? Das ist alles egal.

Noch ein lieb gewonnenes Vorurteil, mit dem Sie gerne aufräumen wollen?

Dass Menschen klug sind.

Etwas anderes, bitte.

Dass es ein tradiertes Wissen gibt, das nicht hinterfragt werden darf. Alles muss überprüft werden. Und dann wieder überprüft. Wir Menschen neigen dazu, das, womit wir aufwachsen, einfach zu übernehmen. Der kluge Homer hat von Göttern geschrieben, die sich irren, die zornig sind, eifersüchtig und auch verschlagen, und die Vorsokratiker, von denen wir wissen, dass sie über die wichtigsten Fragen debattiert haben, die in der Geschichte der Menschheit gestellt worden sind – diese Vorsokratiker haben an Homers Götter geglaubt. Nur Sokrates ging weiter – und musste den Schierlingsbecher trinken.

Im Moment gehen Gerüchte um, Sie hätten die Position als Vizerektor auch deshalb geräumt, weil Sie für finanzielle Schwierigkeiten der Medizinischen Universität mitverantwortlich sind.

Das ist eine gemeine Unterstellung, die weder eine Basis hat, noch sich auf eine Handlung bezieht: Das ist nur ein übles Gerücht. Derjenige, der das behauptet hat, soll vor den Vorhang treten. Ich werde ihn wegen übler Nachrede klagen. Die Wahrheit ist, dass ich das neue Comprehensive Cancer Center leiten soll – und dass diese Aufgabe für einen Krebsspezialisten derart reizvoll ist, dass sie alle anderen Aufgaben in ihrer Attraktivität übertrumpft. Damit geht ein Lebenstraum von mir in Erfüllung!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2010)

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