Fremd, schal, gefühlsarm: Ein Leben ohne Geruchssinn

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Eigentlich wollte Molly Birnbaum Köchin werden - bis sie nach einem Unfall nicht mehr riechen konnte. Ihre Erfahrungen hat sie in einem Buch verarbeitet.

Sie atmete kräftig ein. Die Aromen von Sauerampfer, von Knoblauch, von Curry, Mandarinen, von Fleisch. Wenn Molly Birnbaum abends schlafen ging, hatte sie noch den Duft von Entenfett oder geschmolzener Schokolade in der Nase. Und sie war glücklich dabei, denn die Küche war ihre Welt. Ohne praktische Erfahrung hatte sie sich nach ihrem Collegeabschluss als Praktikantin bei dem aufstrebenden Koch Tony Maws beworben – und durfte in seiner Küche arbeiten, um zu lernen. Zwischen Tellerwaschen und dem Entsorgen von Abfällen nahm sie all die Eindrücke auf, die Geschmäcker, die Gerüche, jedes kleine Detail, sie wollte geradezu alles in sich aufsaugen.

Eine Ampel, die gerade von Rot auf Grün wechselte, ein iPod in ihren Ohren und ein kleiner Ford – und auf einmal war es vorbei. Ein Unfall beim Joggen beendete die gerade erst begonnene Karriere der jungen Amerikanerin in der Küche. Nicht wegen der gerissenen Bänder im Knie, des gebrochenen Beckens oder der Schädelfraktur. Der Apfelkuchen, den ihre Stiefmutter lange nach dem Unfall zubereitete, brachte es zutage: Als sie sich über das dampfende Blech beugte, die Hitze spürte – und plötzlich bemerkte, dass sie ihn nicht mehr riechen konnte.


Es fällt nicht auf. „Ich wusste gar nicht, dass so etwas überhaupt passieren konnte“, erzählt sie im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Kein Wunder, denn während man Blindheit und Gehörlosigkeit häufig begegnet, sich über die Bewältigung des Alltags mit diesen Einschränkungen Gedanken macht, denkt kaum jemand darüber nach, was der Verlust des Geruchssinns bedeutet. Tatsächlich fällt es kaum auf, wenn eine Person nichts riecht – man kann sich ohne Schwierigkeiten im Alltag bewegen und bemerkt das Manko womöglich gar nicht so richtig.

Dabei kommen Anosmie, der vollständige Verlust, und Hyposmie, eine schwere Beeinträchtigung des Geruchssinns, gar nicht so selten vor. Schätzungen gehen von ein bis zwei Prozent der Bevölkerung aus, die unter einer solchen Störung leiden. Also muss es einige Millionen solcher Menschen auf der Welt geben.

„Wenn man von Geburt an nichts riechen kann, hat man wahrscheinlich nicht dieselben Probleme“, sagt Birnbaum. Doch für sie war nach dem Unfall nichts mehr wie vorher. Fremd und schal kam ihr alles vor. „Es war, als würde ich mich selbst in einem Film sehen.“ Selbst das Essen machte ihr keine Freude mehr. Doch sie konnte nicht einmal weinen darüber, denn: „Zusammen mit den Gerüchten haben sich auch meine Gefühle verflüchtigt.“

Dass der Geruch eine große Rolle für die Gefühlswelt spielt, ist bekannt. Das betrifft auch Libido und Sexualität, aber Gerüche können auch Erinnerungen wieder beleben. Und oft bemerkte Birnbaum, dass sie mit ihrem Geruchssinn noch weit mehr verloren hatte, als nur die Freude am Duft eines frisch gebackenen Brotes.

Molly Birnbaum
Molly Birnbaum(c) Matt Mabe

Und doch, das Genießen wollte sie nicht aufgeben. Und so begann sie, sich auf andere Dinge zu konzentrieren, ihre anderen Sinne zu schärfen. Sie verwendete Pfeffer, um die Schärfe auf der Zunge zu spüren, freute sich über das Knacken hauchdünner Schokotäfelchen zwischen ihren Zähnen – und über die Konsistenz der Teigkügelchen im Eis von Ben & Jerry's. Und kam dabei dahinter, dass auch Ben Cohen, einer der Gründer der Eisfabrik, selbst nicht riechen kann – und erst so auf die Idee kam, sich Genuss über texturelle Vielfalt zu schaffen.


Die Rückkehr des Geruchs. Es war nicht perfekt, aber immerhin ließ es sich so halbwegs erträglich leben. Birnbaum versuchte sich sogar wieder in der Küche. Erst mit Backen – wo es mehr um Timing, weniger um Abschmecken geht. Später auch wieder mit Kochen. Und eines Abends, als sie gerade die Zutaten für eine Lammkeule vorbereitete, da lag plötzlich wieder etwas in der Luft. Ein Geruch. Nur schwach, aber doch vorhanden. Rosmarin. „Ich konnte ihn riechen!“

Bei einer Untersuchung war ihr gesagt worden, dass ihr Geruchssinn wohl für immer verloren sein würde. Und dann das. Allein, es war nur Rosmarin, mehr konnte sie nicht wahrnehmen. Erst nach und nach, einmal zufällig, das andere Mal durch Üben, kamen auch andere Gerüche wieder. Auch durch Üben. Unermüdlich probierte sie, welche Düfte, welche Aromen sie wieder wahrnehmen konnte. Und sie kamen wieder – auch wenn sie sie anfangs nicht einordnen, nicht definieren konnte. Doch auch diese Fähigkeit kam langsam wieder zurück.

Birnbaum ist bewusst, dass ihr Fall eine Ausnahme ist. Nur selten erlangen Menschen mit Anosmie ihren Geruchssinn wieder. Warum es gerade bei ihr funktioniert hat, wissen aber selbst ihre Ärzte nicht so genau. Vielleicht war es ihr Alter – zum Zeitpunkt des Unfalls war sie erst 22 –, vielleicht die intensive Beschäftigung mit dem Riechen. Vielleicht halfen aber auch die Recherchen für das Buch, das sie über ihre Erfahrungen verfasste und das morgen, Montag, auf Deutsch erscheint. „Es half mir, viele Fragen für mich selbst zu beantworten“, meint sie. „Insofern war es eine Art Therapie für mich. Und vielleicht wird das Buch ja auch eine Therapie für andere.“

Buchtipp

Molly Birnbaum
Der Geruch der Erinnerung. Wie ich meinen Geruchssinn verlor und wiederfand.
Kein & Aber; 20,50 €

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2011)

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