Sachwalterschaft: Wenn andere entscheiden

Sachwalterschaft Wenn andere entscheiden
Sachwalterschaft Wenn andere entscheiden(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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52.379 Österreicher stehen unter Sachwalterschaft. Viele von ihnen glauben, dass der Entzug der Geschäftsfähigkeit zu Unrecht erfolgte: Was es heißt, wenn Wildfremde über intimste Details entscheiden.

Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Hätte Wolfgang Orehounig neben dem Ordnen seiner Gefühle in jenem Moment auch noch zum Grübeln Zeit gehabt, wäre ihm wohl diese alte Binsenweisheit eingefallen. Denn der Herr im Anzug, der ihm direkt gegenübersaß, hatte ihn gerade eben gefragt, ob er denn wirklich „mit dem“ zusammenleben wolle. „Das gibt doch nur Probleme.“

Orehounig und sein ebenfalls anwesender Lebensgefährte, Roman Dunkl, waren sprachlos. „Dabei war der Umstand, dass der Termin überhaupt notwendig war, schon würdelos genug“, sagt der 29-Jährige heute. „Doch das, was er zu uns sagte, schlug dem Fass den Boden aus.“ Der Mann im Anzug war Rechtsanwalt und Orehounigs Sachwalter. Die Vorsprache diente dazu, diesen davon zu überzeugen, dem homosexuellen Paar das Eingehen einer eingetragenen Partnerschaft zu erlauben. Und ganz offensichtlich hatte der Anwalt so seine Bedenken. Denn wie sein Klient galt und gilt auch Roman Dunkl als Mensch mit intellektueller Behinderung. Aber wie gesagt: Vermutlich meinte es der Sachwalter nur gut, handelte nicht in böser Absicht. Bewirkt hat es bei den beiden Männern das Gegenteil.

„Wir Menschen mit Behinderung haben mit manchen Dingen unsere Probleme“, sagt Orehounig. „Aber wir sind nicht blöd.“ Sachwalterschaft bedeutet für ihn persönliche Zwangsverwaltung durch einen Dritten. Auch dann, wenn dieser in guter Absicht handelt. Was der junge Mann will, ist die letztinstanzliche Eigenverantwortung für sein Leben. Angst vor den eigenen Schwächen oder Fehlern hat er nicht. „Wenn ich Hilfe brauche, könnte ich schließlich jederzeit einen vertrauenswürdigen Menschen aus meinem Umfeld fragen.“

Mit seinem Lebensgefährten Roman Dunkl lebt Orehounig inzwischen in Partnerschaft; gemeinsam mit einer engagierten Richterin brachte er seinen Sachwalter dazu, ihm eine Vollmacht für den selbstständigen Gang zum Magistrat auszustellen. Dennoch hätte es besser laufen können. Die 1100 Euro für Gebühren und Feier wollten sich die beiden Männer nämlich teilen. Wollten. Laut Sachwalter war aber kein Geld vorhanden, also borgte sich Roman Dunkl die Summe, machte Schulden. Erst später, als Orehounig den Sachwalter wechselte, stellte sich heraus, dass es auch einfacher gegangen wäre. Auf seinem Konto ruhte nämlich, ohne dass er es wusste, ein Vielfaches des Betrages.

Taschengeld für Erwachsene. 52.379 Personen in Österreich, das ist ziemlich genau die Einwohnerzahl von St.Pölten, geht es ganz ähnlich. Sie alle stehen unter Sachwalterschaft, führen ein fremdbestimmtes Leben. Betroffen sind Menschen mit körperlicher oder intellektueller Behinderung, verunfallte, alte oder demente Personen. Was das – stark vereinfacht gesagt – überhaupt bedeutet? Streng genommen entscheidet ein Dritter über ihren Alltag. Das fängt damit an, wie viel Taschengeld der Sachwalter dem Betroffenen für Wünsche außerhalb des täglichen Bedarfs (z.B. Einkauf) lässt, und endet bei – siehe oben – intimsten Details. Neben der Abwicklung von Rechtsgeschäften oder der Erledigung von Behördenwegen kann ein Sachwalter auch Entscheidungen über die medizinische Behandlung seines Schutzbefohlenen treffen, und ist damit streng genommen dessen Herr über Wohl und Wehe.

Ob, und wenn ja, für welche der genannten Bereiche eine Person einen Sachwalter bekommt, entscheidet ein Richter auf Basis des zuletzt 2006 veränderten Sachwalterrechts. Entweder auf Wunsch des Betroffenen, oder, häufiger der Fall, auf Anregung einer Person aus seinem Umfeld. So gibt es Beschlüsse, nach denen dem Betroffenen nur in finanziellen Angelegenheiten die Geschäftsfähigkeit entzogen wird. In anderen Fällen werden sämtliche Angelegenheiten dem Sachwalter übertragen.

Menschenrecht auf Selbstbestimmung. Wie die Entscheidung auch ausfällt: Marianne Schulze macht sie fast immer zornig. Die Konsulentin für Menschenrechte ist nebenbei auch Vorsitzende des Monitoring-Ausschusses der Republik. In dieser Funktion übt sie immer wieder deutliche Kritik am österreichischen Sachwalterrecht.

„Gegenüber der UNO hat sich Österreich verpflichtet, behinderten Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Und jeder Eingriff durch Sachwalterschaft ist ein Verstoß gegen diese Konvention“, sagt sie. Doch das ist nur die formelle, die juristische Seite. Schulze interessiert sich vor allem für die soziale. Und diese, sagt sie, sei hierzulande nicht gerade weit entwickelt. „Haftungsdenke“ nennt sie die tief in Bevölkerung und System verankerte Tradition, alte, beeinträchtigte oder behinderte Menschen von oben herab bemuttern zu wollen. „Die sogenannten normalen Menschen stellt man schließlich auch nicht unter Kuratel, nur weil sich jemand über beide Ohren verschuldet hat, zu viel isst oder trinkt.“ Für Schulze ist das ein Zeichen, dass insbesondere Behinderte nach wie vor als Menschen zweiter Klasse gesehen werden.

Wie zuwider gut gemeinte, aber von oben herab verordnete Fürsorge in Form einer Sachwalterschaft vielen Betroffenen ist, lässt sich in den Protokollen der öffentlichen Sitzungen des Monitoring-Ausschusses eindrucksvoll nachlesen. Auf zahllosen Seiten äußern sich darin Familienmitglieder, Sachwalter, vor allem aber unter Sachwalterschaft stehende Personen über ihre grundsätzlichen Probleme damit. Und über Details.

Die meisten Beschwerden gibt es über unhöfliche, verletzende oder für die Klienten schlichtweg nicht erreichbare Sachwalter. Meistens sind es Anwälte. Kritik regt sich auch wegen tief greifender Eingriffe des Sachwalters in Entscheidungen über Freizeit, Beruf, Privatleben und sogar Sexualität. Und so manche Äußerung reduziert die hochkomplexe Thematik mit verblüffend einfachen Worten auf das Wesentliche: „Menschen mit Behinderungen sind mündig, sie können klar denken, manche benötigen Hilfe dabei, ihre Gedanken zu äußern.“

Die Idee, Alten, Gebrechlichen, Dementen oder Behinderten künftig nicht mehr das gesetzlich definierte „Wohl“ zu verordnen, sondern ihnen Werkzeuge zur Verfügung zu stellen, mit deren Hilfe sie selbst entscheiden können, setzt sich in Fachkreisen zusehends durch. Das Modell, das viele anstreben, nennt sich „unterstützte Entscheidungsfindung“.

Zu den politischen Entscheidungsträgern ist es bisher jedoch noch nicht durchgedrungen. Das ändert sich gerade. Nachdem sich sowohl Monitoring-Ausschuss als auch Interessenvertretungen wie Selbstbestimmt Leben Österreich (SLÖ) dafür starkmachten, nahm der Nationalrat am Freitag einen entsprechenden Entschließungsantrag einstimmig an. In den nächsten Monaten wird das Justizministerium, auf Basis von Erfahrungen aus Kanada und Schweden, ein Pilotprojekt für unterstützte Entscheidungsfindung ausarbeiten.

Doch es gibt auch Kritiker. Gerald Bachinger, Sprecher der Patienten- und Pflegeanwälte Österreichs, ist einer von ihnen. Er hält die Initiative für die unterstützte Entscheidungsfindung für kontraproduktiv, denn: „Das rechtliche Regelwerk ist schon jetzt gut, man müsste die Möglichkeiten, die es uns lässt, nur ausnützen.“ Bachinger meint die maßgeschneiderten Sachwalterschaften, die nur jene Lebensbereiche abdecken, die das Gericht für unbedingt nötig erachtet. Seiner Meinung nach scheitert es meistens jedoch an der Umsetzung; und dann meistens am Finanziellen. Wie das zu verstehen ist?

Finanziell ausgeliefert. Als Sachwalter kommen laut Gesetz entweder nahestehende Personen, die insgesamt vier vom Staat mitfinanzierten Sachwaltervereine sowie Anwälte und Notare infrage. Allen Gruppen stehen sogenannte Aufwandsentschädigungen für ihre Dienste als Sachwalter zu. Das sind jährlich fünf Prozent vom Einkommen des Betroffenen sowie bis zu zwei Prozent des Vermögens. Das führt mitunter dazu, dass insbesondere die beiden letztgenannten Gruppen ein maßgebliches Interesse an einer „wirtschaftlichen“ Führung des Haushalts entwickeln und die persönlichen Bedürfnisse des Betroffenen (z.B. Urlaub) nach hinten reihen. Auch die Geschichte von Wolfgang Orehounig und seinem angeblich leeren Konto fällt in diese Kategorie.

Dabei hatten er und sein Lebensgefährte noch Glück. Einen um einiges größeren Schaden erlitt etwa Lucia Vock. Die 47-Jährige litt jahrelang unter Epilepsie, ging mit einem Serben eine Scheinehe ein, wurde anschließend unter Sachwalterschaft gestellt und wieder geschieden. Die Sachwalterin, eine Anwältin, war für die Wienerin nicht nur nie erreichbar, sondern kam auch ihren Pflichten nicht nach – denn trotz gegenteiliger Behauptungen zahlte sie nicht die Miete für die betreute Wohngemeinschaft. Fast wäre es zu einer Delogierung gekommen, wenn nicht ihr Vermieter, der gemeinnützige Sozialverein Jugend am Werk, die Hintergründe für die Mietausstände erfahren hätte. Jugend am Werk, wo Vock heute selbst Kurse für andere Klienten gibt, ging zu Gericht, bemühte sich um eine Sachwalterin aus einem der vier staatlich beauftragten Sachwaltervereine.

Der größte dieser Vereine ist Vertretungsnetz. Die 1000 haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter des Vereins betreuen derzeit 6000 Klienten. Tendenz steigend. Im Büro des Geschäftsführers in der Wiener Forsthausgasse sitzt Peter Schlaffer. Hier, im zweiten Stock eines riesigen Wohnkomplexes, arbeitet er konsequent an der Auflösung seiner eigenen Geschäftsgrundlage. Zumindest könnte man das mit einem Augenzwinkern so sehen, denn: Auch Schlaffer ist der Meinung, dass das Sachwalterrecht in seiner jetzigen Form überholt ist, es viel mehr Möglichkeiten braucht, damit Betroffene in möglichst vielen Fällen selbst oder zumindest mitentscheiden.

Tradition der Bevormundung. Allzu große Hoffnungen darauf macht er sich jedoch nicht. Vom kaiserlichen Patent über die Entmündigung (1916) dauerte es 68 Jahre bis zur moderneren Sachwaltergesetzgebung. Danach brauchte es noch einmal ganze 22 Jahre, um dieser die gröbsten Ecken und Kanten zu nehmen. Und selbst die jüngste Reform aus dem Jahr 2006 wird seiner Meinung nach von vielen Playern im System noch viel zu strikt ausgelegt. „Nach unserer Schätzung ist jede zweite gerichtlich angeordnete Einschränkung der Geschäftsfähigkeit unnötig“, sagt er. Mindestens.

In der Statistik über die Zahl der Sachwalterschaften in Österreich ist auffällig, dass die Zahl jener Fälle, in denen in sämtlichen Lebensbereichen des Betroffenen vom Sachwalter entschieden wird, überproportional hoch ist, nämlich 28.641 von 52.379. Das ist weit mehr als die Hälfte. Tendiert der Staat dazu, seinen Bürgern eher zu viel als zu wenig Fürsorge angedeihen zu lassen? Schlaffer glaubt ja. Seiner Erfahrung nach würden Richter tendenziell lieber mehr als weniger Verantwortung an den Sachwalter übertragen. Immer in guter Absicht, aber eben nur selten im Sinne des Betroffenen.

Aus diesem Grund bietet Vertretungsnetz seit einiger Zeit das sogenannte Clearing an. Im Zuge dieses Prozesses arbeiten eigens ausgebildete Sachwalter im Auftrag des Gerichts heraus, ob die Einleitung eines Verfahrens überhaupt notwendig ist. Allein im Jahr 2001 durchleuchteten die Vertretungsnetz-Mitarbeiter so 4000 Fälle. Bei fast einem Drittel empfahl Vertretungsnetz dem Gericht, gar kein Verfahren einzuleiten. Oder anders ausgedrückt: Bei 31,3 Prozent aller „Verdachtsfälle“ ist es nicht einmal nötig zu prüfen, ob der Betroffene jemanden braucht, der in einigen (oder allen) Sphären seines Lebens für ihn entscheidet. Ob, und wenn ja, wie oft das Gericht diesen Empfehlungen folgt, darüber gibt es keine Daten.

Sehr wohl dokumentiert ist inzwischen, dass immer mehr Sachwalterschaften an Notare, vor allem aber an Rechtsanwälte gehen. Problematisch ist das deshalb, weil die Beschwerden über Sachwalter fast immer die Gruppe der Rechtsberufe betreffen, nur ganz selten stehen nahe Angehörige oder die Vereine in der Kritik. Warum?

Weil das gesetzliche Regelwerk Schwächen hat, und nicht weil Anwälte und Notare böse sind. So steht es sinngemäß in der Stellungnahme des Monitoring-Ausschusses, so sagen es Patientenanwalt Bachinger und Vertretungsnetz-Geschäftsführer Peter Schlaffer. „Organisation und Arbeitsabläufe in einer Kanzlei sind einfach nicht darauf ausgelegt, mit schwierigen Menschen zu kommunizieren. Zumindest nicht zu beiderseitiger Zufriedenheit.“ Oder anders formuliert: Von auf Recht spezialisierten Berufen verlange man Dinge, die sie gar nicht leisten können, nämlich psychosoziale Betreuung und Fürsorge.

Tatsächlich ist es so, dass das Gesetz vorsieht, dass vom Richter zu allererst eine nahestehende Person als Sachwalter zu bestellen ist. Ist eine solche nicht verfügbar, käme als Nächster der Vereinssachwalter zum Zug. Erst wenn der – meistens aus Gründen des Ressourcenmangels – absagt, kommen die Rechtsberufe ins Spiel.

Wie bereits erwähnt, geschieht das immer häufiger. Das hat damit zu tun, dass die Mittel der Vereine, die vom Justizministerium mit jährlich 30 Mio. Euro gefördert werden, viel zu gering sind. Eine Befragung von Richtern ergab, dass diese den Bedarf an Vereinssachwaltern auf das Zwei- bis Dreifache des momentanen Standes schätzen. Was umgekehrt bedeutet, dass verstärkt auf Anwälte und Notare zurückgegriffen werden muss.

Das ist auch vielen Anwälten nicht recht. Rupert Wolff, Präsident des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages (Örak), kennt Kollegen, die zwangsweise mit Sachwalterschaften betraut wurden. Bis zu fünf solcher Fälle können pro Kanzlei zugewiesen werden. Dass der Betroffene dann nur das Pflichtprogramm (ein persönlicher Termin pro Monat) erwarten kann, liegt auf der Hand.

Zudem kommt, dass die Entschädigung für die Dienste eines Sachwalters auch nur dann verrechnet werden können, wenn überhaupt ein Einkommen oder ein Vermögen da ist. Oft ist das nicht so, weshalb so manche Kanzlei die Kopierkosten für Akten selbst bezahlen muss.

Anwälte fordern Reformen. Örak-Chef Wolff fordert deshalb die Aufhebung der gesetzlich möglichen Zwangsbetrauung mit Sachwalterschaften. „Wie kann es sein, dass man uns Fälle zuteilt, und uns dann nicht einmal die Kosten für Fahrten oder Telefon ersetzt?“ Weiteren Änderungsbedarf sieht er in der Bestimmung, dass jeder Anwalt höchstens 25 Sachwalterschaften gleichzeitig abwickeln darf. Immerhin: Die Rechtsanwaltsordnung untersagt es schon heute, Mandate oder Fälle anzunehmen, um die man sich aus zeitlichen oder fachlichen Gründen in Wahrheit nicht kümmern kann. Wolff: „Es gibt jedoch spezialisierte Kanzleien, die das sehr wohl könnten, die zur besseren Betreuung der Klienten sogar Sozialarbeiter beschäftigen.“ Und drittens könne man all diese Probleme ohnedies mit einer besseren Dotierung der Sachwaltervereine lösen.

Lucia Vock will sich über all diese rechtlichen Details keine Gedanken machen. Sie wünscht sich für sich selbst nur eines: dass alles so bleibt, wie es ist. Stabilität ist ihr wichtig, über ihre derzeitige Sachwalterin erzählt sie nur Gutes. Das Gericht bot ihr vor einiger Zeit sogar an zu prüfen, ob die Sachwalterschaft eingestellt werden könne. Vock lehnte ab. „Zu wissen, dass jemand da ist, der Verantwortung trägt, gibt mir Sicherheit.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2012)

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