Nächstenliebe, die Nächste

Nächstenliebe, die Nächste oder: Warum wir nicht warten sollen, bis wir wieder einen Nachruf lesen.

Wir haben uns ehrlich Mühe gegeben, dem neuen Jahr unvoreingenommen gegenüberzutreten. Doch kaum hat man sich entspannt, die Abwehrhaltung aufgegeben und sich für das, was da noch kommen mag, geöffnet, stirbt David Bowie, und man findet sich mitten im nächsten Nächstenliebe-Wahlkampf wieder. 2016 will es also wissen.

Aus David Bowies Tod könnte man übrigens eine Lehre ziehen: Nicht darauf warten, bis jemand auf die andere Seite wechselt, bevor man wieder die alten Platten, Bücher oder Filme hervorkramt, die einem irgendwann einmal etwas bedeutet haben. Sondern jetzt einfach ganz ohne Nachrufanschubmotivation und Tränen im Augenwinkel Liebgewonnenes wieder neu entdecken.

Dabei kann man auch vortrefflich darüber nachdenken, wer einem besonders abginge, wenn er plötzlich stürbe und nicht mehr regelmäßig für künstlerischen Nachschub sorgen würde. Woody Allen sei hier nur als ein Beispiel genannt. Dessen alte Filme, ja genau die, die noch im guten alten Big Apple spielen, sind noch genauso – lustig, gescheit, subversiv –, wie man sie in Erinnerung hatte. Nach dem Nachruf wissen es dann wieder alle.

Manchmal kommt vor dem Nachruf eine unverhoffte Oscar-Nominierung. Sylvester Stallone ist für seine „Rocky“-Fortsetzung „Creed“ für einen Academy Award als Bester Nebendarsteller nominiert. Nach fast 40 Jahren Pause. Man würde ihm den Preis von Herzen gönnen, wenn gewährleistet wäre, dass nun kein „Creed“ 2, 3, 4 und 5 folgt. Vielleicht könnte die Academy das ja irgendwo im Kleingedruckten als Bedingung für die Auszeichnung festschreiben.

Den Hauptrollen-Oscar sollte also diesmal endgültig, ein für alle Mal, für fix, Leonardo DiCaprio bekommen. Dafür ist er in „The Revenant“ (wobei der eigentliche Rückkehrer ja nun Sylvester Stallone ist) auch geschunden worden wie zuletzt vielleicht nur der Geheimdienstmitarbeiter Peter Quinn in der Erfolgsserie „Homeland“. Der Film, der übrigens genau wie „Gladiator“ beginnt, verlangt auch dem Zuschauer jede Menge ab. Verraten soll an dieser Stelle nur noch eines werden: Leo war auch schon besser. Trotzdem wird es ausgerechnet diesmal mit dem Oscar klappen.

2016 jedenfalls hat seinen Vertrauensvorschuss verspielt. Bei aller (Nächsten-)Liebe.

florian.asamer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2016)

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