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Vom Nichts bis zur Himmelfahrt: Großer Jazz

INTERNATIONALES JAZZFESTIVAL SAALFELDEN: ARCHIE SHEPP
INTERNATIONALES JAZZFESTIVAL SAALFELDEN: ARCHIE SHEPP(c) APA/JAZZFESTIVAL SAALFELDEN/ARTI (JAZZFESTIVAL SAALFELDEN/ARTISUAL)
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Friedlander führte ins ewige Eis, Shepp war zärtlich und wild zugleich: Die 35.Ausgabe des wichtigsten österreichischen Jazzfests zeigte besonders wirkungsvoll, was zeitgenössische Improvisationsmusik kann.

Das Nichts: Chansoniers wie Léo Ferré und Gilbert Becaud haben es in wüsten Metaphern besungen, Philosophen von Parmenides bis Heidegger machten es zum Gegenstand diffiziler Betrachtungen. Da steht es auch Jazzern gut an, sich mit diesem angstbesetzten Phänomen zu befassen. Der US-Cellist Erik Friedlander tat es in Saalfelden auf ansprechende Weise: Mit zwei japanischen Mitmusikern setzte er das fort, was er als Soundtrackkomponist der Grönland-Dokumentation „Nothing On Earth“ interimistisch abgeschlossen hat. Den Sound einer Landschaft ohne Horizont erfand er mittels herber Melodie, die seltsamen Zauber verbreitete. Zwischen dem tumultuarischen Sizilianer Roy Paci und dem scheintoten Alt-Avantgardisten Henry Threadgill eingezwängt, glückten Friedlander Momente wahrer Magie. Das versonnen dahinwerkelnde Trio schuf die imaginäre Folklore eines gleißend hellen, von Feen und Elfen, aber auch von Thursen und Jöten (so heißen die unheimlichen Riesen der nordischen Mythologie) bevölkerten Landstrichs. Mit viel Feinsinn hangelte sich das Trio über die Risse im ewigen Eis. Mollbetonte Harmonik bildete die solide Basis für minimale Melodik, wie sie in Stücken wie „Kiskadee“ und „Ingia“ hell aufflammte. Diese wehe Musik führte über die Ränder der sicher gedeuteten Welt.

Erstaunlich mau: Henry Threadgill

Hinaus ins Offene will im Prinzip jede Art von improvisierter Musik. Allein, nicht immer gelingt es. Henry Threadgills siebenköpfiges Ensemble Double Up lockte eher in ein Labyrinth musikalischer Leerformeln, die eine Hommage an den kürzlich verstorbenen Butch Morris hätte sein sollen. Minimale Handzeichen und maximales Herumstehen prägten Threadgills entbehrlichen Auftritt. Trotz Mitwirkung von Jason Moran und David Virelles, zwei der besten Pianisten der Gegenwart, war das künstlerische Ergebnis erstaunlich mau. Die Bläsermotive wirkten zu getragen, die rhythmischen Schichtungen zu formalistisch.

Es lag dann ganz am wüsten Großensemble des Trompeters Roy Paci, den zweiten Abend mit einem Rufzeichen ausklingen zu lassen. Lärmsalven von überblasenen Saxofonen und Trompeten und kreischenden Gitarren sorgten vor allem im Schlussstück „Cinematic Convention Of Murder“ für das richtige Maß an Anarchie. Irgendwann kapierte jeder, dass hier nicht herumgekaspert, sondern mit fast krimineller Energie um erweitertes Klangbewusstsein gerungen wurde.

Solch wilde Strebung ging dem Eröffnungskonzert von Philipp Nykrins Wire Resistance gänzlich ab. Erstaunlich pastoral spulte der an sich vielversprechende Pianist sein Debüt auf der großen Bühne ab. Die erhofften giftigen, elektronischen Sounds, die das Übermaß an Konvention hätten bändigen können, wurden in viel zu kleinen Häppchen serviert. Da war Veteran Christian Mühlbacher mit seinem Großensemble schon wagemutiger. Was getragen mit dem leicht verhuschten „Nebel“ startete, entwickelte sich zu einem fünfzigminütigen, infernalischen Medley aus elf Stücken. Getragen von Fabian Rucker, Gerald Preinfalk und Gerald Schuller, heimischen Meistern instrumentaler Schrägheit, glückte eine flirrende, rhythmisch vertrackte Berg-und-Tal-Fahrt. Hörenswert war am Schlusstag auch der von Max Nagl, Herwig Gradischnig, Peter Herbert und Michael Vatcher liebevoll zerquetschte Beatles-Klassiker „A Day In My Life“.

Beinahe übergeschnappt: Marc Ribot

Die wohl beste Lektion des heuer von Michaela Mayer und Mario Steidl besonders akribisch programmierten Festivals erteilte Gitarrist Marc Ribot. Man kennt ihn seit Beginn der Achtzigerjahre als geschmackvollen Ikonoklasten, der gern auch abseits der improvisierenden Zunft von abenteuerlustigen Singern/Songwritern wie Tom Waits und Joe Henry eingesetzt wird. Die Bandbreite seiner Ausdrucksmöglichkeiten schien einigermaßen berechenbar. Heuer aber bildete er sich ein, den politischen Folksänger geben zu müssen. Sein schlicht „Protest Songs“ benanntes Programm tändelte zu Beginn aufreizend mit Dilettantismus. Zu ein wenig Schrumm-Schrumm-Gitarre grantelte er über Flughafensecurity und die Aufzüge des Empire State Building. Außerdem befand er, dass Santa Claus ein „Motherfucker“ sei.

Just, als man sich schon damit abgefunden hatte, dass der so viele Jahre verlässlich gemäßigte Schrägtöner übergeschnappt sei, wurde die Chose unerwartet soulful: Mit einem Protestlied gegen den Machismo, komponiert von der mexikanischen Sängerin Paquita La Del Barrio, glückte eine spektakuläre Wendung zum Guten. Serge Gainsbourgs „La Noyée“, von Emily Wittman als „You Leave Me Now“ übersetzt, war ebenfalls ein Highlight. Poesie, das wurde hier klar, kommt entweder zu früh oder zu spät, vor oder nach der Liebe. Behutsam sperrte Ribot das, was von der Leidenschaft übrig blieb, in eine karge, aber dennoch anheimelnde Wörter- und Notenwelt. Mit seiner exaltierten Eigenkomposition „Lies My Body Told Me“, die er vor einigen Jahren mit seiner Formation Ceramic Dog aufgenommen hat, traf er einen Nerv bei den männlichen Jazzsenioren. Die Conclusio des Songs lautete schlicht: Hüftsteifheit schützt vor hormoneller Verwirrung nicht.

Erinnerung an John Coltrane

Den grandiosen Schlusspunkt setzte das Joachim-Kühn-Trio mit Starsaxofonist Archie Shepp. Mit reichlich Ächzen und Knurren, aber auch ein paar eingestreuten Lieblichkeiten faszinierte Shepp nachhaltig. Von der ersten Sekunde an war klar: Dieser Mann entstammt einer anderen, einer wesentlicheren Ära des Jazz. Zur Intensität von Stücken wie „Voodoo Sense“ trug der arabische Guembri-Virtuose Majid Bekkas wesentlich bei. Intensive Erinnerung an die expressiven Sechzigerjahre war „Kulu Sé Mama“, ein Stück, das Shepp einst mit dem Jazzheiligen John Coltrane spielte. Der intensivste Moment indes kam mit der Ballade „L'eternal Voyage“. Kühns schwärmerisches Spiel wurde da von Shepps intensiver Archaik, die sich lustvoll bis an die Kante zur völligen Auflösung aller Form wagte, effektvoll konterkariert. Akademische Hörer beklagten jetzt kleingeistig falsche Töne, für die Dionysiker aber war es – im Geist von Coltranes Freejazz-Klassiker „Ascension“ – die schönste Himmelfahrt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2014)

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