Der Himmel, zum Greifen nah

Die Expo ist zu Ende, Mailand lockt noch immer mit Neuem. Etwa schwindelerregenden Blicken vom Dach der Galleria Vittorio Emanuele.

Angenehm warm ist das Licht, das die Lampen in der Galleria verbreiten. Erhitzt scheinen stattdessen die Gemüter der Menschen, die zum Eingang eines Kaffeehauses drängen. Einige der Männer in eleganten schwarzen Anzügen rudern aufgebracht mit den Armen in der Luft, und auch die Frauen in schmucker Abendgarderobe haben sichtlich Mühe, eine damenhafte Haltung zu bewahren. Grund der allgemeinen Aufregung sind zwei Passantinnen, vielleicht Prostituierte, die sich vor dem Caf gerade in den Haaren liegen. "Rissa in Galleria" heißt dieses Bild, das Umberto Boccioni, einer der Mitbegründer des Futurismus, 1910 malte. Auch ihm hatte es die Mailänder Galleria Vittorio Emanuele mit ihrem triumphbogenartigen Eingang seitlich des Doms, den prunkvollen Stuckaturen und Fresken angetan.

Der Salon der Stadt

Vom Architekten Giuseppe Mengoni entworfen und 1877 feierlich eingeweiht, eroberte die Passage im Nu die Herzen der Mailänder, sie wurde zu ihrem "Salotto", zum beliebtesten Treffpunkt in der Stadt. Auch Giuseppe Verdi und Arturo Toscanini konnte man hier antreffen, denn auch zur Scala sind es nur wenige Schritte. Bis in die Siebzigerjahre hinein war sie außerdem Schauplatz lebhafter politischer Diskussionen und so mancher Studentendemonstration. In den Achtzigern änderte sich das Publikum, den Hitzköpfen folgten elegante Damen in Einkaufslaune, die sich dann nach einer Shoppingtour auch gern einen Plausch im Savini oder dem Camparino, den zwei Traditionslokalen der Passage, gönnten. Um die Jahrtausendwende hatte der "Salotto" etwas von seinem Glanz eingebüßt, die Touristen tummelten sich zwar noch unter den prächtigen Glaskuppeln, die Mailänder suchten sich aber neue Treffpunkte.

Da kam der Zuschlag Mailands für die Weltausstellung gerade richtig. Die Modehäuser Prada, Versace und die Buchladenkette Feltrinelli beschlossen, die Kosten für die Restaurierungsarbeiten und den Putz zu übernehmen, und so kam es, dass die Galleria, genau 150 Jahre nach der Grundsteinlegung, wieder in altem Glanz erstrahlte. Über diese andauernde Zuneigung zu seinem Meisterwerk wäre Mengoni sicher glücklich, noch glücklicher wahrscheinlich zu wissen, dass die Mailänder seit Mai auch über den Dächern seiner Einkaufspassage spazieren können und aus 40 Metern Höhe einen einmaligen Blick auf den so nahen Dom und auf die neue Skyline der Stadt genießen.

Auf die Idee, aus den einst nur für Reparaturarbeiten gedachten Laufgräben eine öffentlich zugängliche Highline Galleria zu machen, kam Alessandro Rosso, ein stämmiger Mittfünfziger und Vorsitzender der Alessandro Rosso Group, einem Big Player in der Tourismusbranche. "Ursprünglich wollten meine Frau und ich eine kleine Pension mit Blick auf die Galleria", sagt er. Daraus wurde jedoch das Seven Stars Galleria Hotel. Als Rosso seinen Eltern erzählte, sein Hotel würde sieben Sterne haben, waren diese absolut dagegen. Damit würde er sich nur bloßstellen, meinten sie. Fünf-Sterne-Plus seien genug, auch wenn man aus den Fenstern der Suites einen exklusiven Blick hinunter in die Galleria hat. Doch die Galleria sei anderer Meinung gewesen: "Nein, sieben Sterne sollten es sein, die Leute werden ja nicht dich beurteilen, sondern mich", soll sie ihm zugeflüstert haben.

Cabrio oder Restaurant?

Während der Umbauarbeiten gelangte Rosso eines Tages über eine Diensttreppe auf das Dach. Die Aussicht überwältigte ihn. Und je weiter er die Laufgräben entlangspazierte, jedes Eck und jeden Winkel erkundete, desto überzeugter war er, dass "diese Aussicht nicht nur mir vorbehalten sein durfte". So machte er sich daran, die Laufgräben in Gehwege umzubauen. Heute erwartet die Besucher ein 250 Meter langer, auch für Kinder vollkommen sicherer Spaziergang, ausgestattet mit etlichen Aussichtsplattformen. Das Panorama ist überwältigend, genauso einmalig ist aber das Gefühl, sich über der Passage zu bewegen und die Glaskuppeln von oben zu sehen: Die zentrale und größte, die das Oktagon bedeckt, erreicht eine Höhe von 47 Metern und besteht aus 353 Tonnen Eisen, Millionen von Quadratmetern an gerillten Glasplatten. Dieses Meisterwerk italienischer Ingenieurskunst diente später nicht nur der Galleria San Carlo in Neapel als Muster, sondern auch beim Bau des Eiffelturms in Paris.

Auch Lokale gibt es übrigens in höchsten Höhen: Das Pavarotti Restaurant Museum sei das erste Cabrio-Restaurant, erklärt Rosso. Denn die großen Glasscheiben stehen im Sommer offen, und vom Tisch sieht man direkt auf den Dom. Hier speist man umgeben von Memorabilia des Maestros und lauscht seinen berühmten Arien. Rosso ist aber hier oben noch lang nicht fertig. Als Nächstes möchte er eine Spaziermeile zu einer Kunstgalerie en plein air verwandeln. "Die Gemälde werden zwar von einem Dach bedeckt, hängen aber trotzdem im Freien" sagt er. Diese Highline Galleria sei wie eine "unendliche Geschichte", an der er unentwegt weiterfabuliert. Besucher Mailands können sich nun selbst ein Bild machen.

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