Willkommen im Unsicherheitszeitalter

Die Sinnfrage rückt im Wissenszeitalter in den Vordergrund und führt zu einer Individualisierung der Karrierewege. Dabei ist Selbstreflexion die Voraussetzung für Erfolg und Erfüllung im Berufsleben.

Nach dem Industriezeitalter und dem Goldgräberrausch des New Economy-Hypes sind wir endgültig im Wissenszeitalter angekommen. Wegen seiner immer volatileren Rahmenbedingungen wird es vielfach auch als Unsicherheitszeitalter bezeichnet.

Globalisierung, Digitalisierung, Megafusionen, Mergers & Acquisitions – in vielen Branchen bleibt kein Stein auf dem anderen. Die lebenslange fixe Anstellung ist bald endgültig Geschichte, ja sogar Kollektivverträge, die jahrzehntelang als sakrosankt gegolten haben, haben ihr Ablaufdatum erreicht, wie in den vergangenen Jahren am Beispiel von Journalisten oder beim fliegenden Personal zu beobachten war.

Fest steht: Erwerbstätige müssen selbst zu Regisseuren ihres (Berufs-)Lebens werden. Und: Wenn wir in Zukunft über das 70. Lebensjahr hinaus arbeiten wollen oder müssen, sollten wir eine Arbeit suchen, die auch Spaß macht. Das klingt romantischer, als es ist.

Sören Buschmann, Geschäftsführer von Strametz & Partner, etwa sagt: „Nachdem Unternehmen zunehmend nach Menschen suchen, die ihre Aufgabe als Passion empfinden, herrscht ein Gleichklang der Interessen.“ Bewerber wollten ebenfalls nur noch Jobs, die sie erfüllen. Für Unternehmen sei das eine Herausforderung, weil die Umgebung erst auf ein lustvolles Arbeiten adaptiert werden muss (Stichwort: graue Möbel, grauer Anzug, graue Menschen), und für Bewerber sei es ebenfalls eine Herausforderung, sagt Buchmann, „weil es eine stärkere Form der Selbstreflexion über Fähigkeiten und Wünsche verlangt“.

„Know thyself!“, empfiehlt auch Lydia Goutas. Die Personalberaterin von Lehner Excutive Partners beobachtet, dass Bewerber oft aus Prestigegründen nach Titeln und Positionen streben, für die sie gar nicht geeignet sind. „Viele wollen führen, sind aber vom Naturell her keine Leader. Speziell im digitalen Zeitalter bedeutet Führen, Ärmel aufzukrempeln und viel Zeit in Kommunikation, Training, Teamentwicklung, Veränderungsmanagement und Verkauf zu investieren. Das ist zeitintensiv und für Einzelgänger stressig.“

Statt auf das große Büro, das vielköpfige Team und den trendigen Dienstwagen zu schielen, empfiehlt sie, sich Klarheit darüber zu verschaffen, in welchem Umfeld und in welchen Positionen man sich wohlfühlt, wie hoch der Stresspegel gehen darf und zu welcher Mobilität man bereit ist. Das ist der Startpunkt für die Karriere beim bisherigen Arbeitgeber oder für einen Quereinstieg.

Als Grund für den wachsenden Wunsch nach Selbstverwirklichung am Arbeitsplatz sieht Buschmann die gesellschaftliche Bewusstseinserweiterung: „Das Unternehmen ist nicht mehr in der Pflicht, die Karriere gestalten zu müssen. Durch den Wegfall dieses Fast-Monopols der Unternehmen sieht sich der Einzelne gezwungen, nach den eigenen Bedürfnissen zu fragen.“ Bei der jungen Generation habe er den Eindruck, dass sie mit der Frage überfordert sei. Ihre Antworten seien vielfach aufgesetzt und nicht authentisch. „Das ist gefährlich für eine Karriereentscheidung.“

Harmonisches Lebensprojekt

Arbeiten, um zu leben oder leben, um zu arbeiten: Diese Frage ist obsolet geworden. Im Idealfall sind die Grenzen zwischen den ehemals getrennten Projekten Selbstverwirklichung im Privatleben und Existenzsicherung im Beruf Geschichte. Sie sind verschmolzen in einem harmonischen Lebensprojekt namens Ich, in dem Berufstätige selbstbestimmt agieren.

ZUR PERSON

Johanna Zugmann war viele Jahre Leiterin des „Presse“-Karriereressorts und ist Autorin des im Herbst 2015 im Ueberreuter Verlag erschienenen Buchs „Karriere neu denken. Ende, Wende Neuanfang“.

("undefined", Print-Ausgabe, 28.11.2015)

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