Welt aus Marmor

In Michelangelos Marmorsteinbruch in der Toskana werkt heute ein junger Designer: Moreno Ratti verwendet modernere Mittel.

Der Geländewagen bahnt sich seinen Weg: den steilen Pfad entlang, der zum Marmorbruch führt. Ab und zu hat man das Gefühl, dem Himmel näher als der Erde zu sein. Ringsum, soweit das Auge reicht, nur Marmor, zig Meter hohe Felswände und riesige Gesteinsbrocken, die eigentlich schon längst den Hang hinuntergedonnert sein müssten, so instabil wirkt ihre Position. Moreno Ratti zeigt begeistert einmal nach links, einmal nach rechts. Das ist seine Welt. Er ist in Carrara am Fuße der Marmorbrüche geboren und aufgewachsen.

Carrara ist eine kleine Stadt in der Nordtoskana, nahe der Apuanischen Alpen, eine knappe halbe Stunde entfernt vom Badeort Versilia am Ligurischen Meer. Ein Abstecher zur Marmorwelt Carraras lohnt sich. Hierher kam schon der Renaissancemeister Michelangelo, um die Marmorblöcke für seinen David in Florenz, für die Pietà in Mailand, für den Moses auf dem Grab von Papst Julius II. in Rom auszusuchen. Und bis heute pilgern die Bildhauer hierher. Jan Fabres kontroverse „Pietà“, die er 2011 auf der Biennale in Venedig ausstellte, und Maurizio Cattelans gigantischer Mittelfinger, der jetzt vor der Mailänder Börse in den Himmel ragt, wurden aus den hiesigen Marmorbrüchen gemeißelt.

Effizient. Die Lampe „+O-“ wird aus nur einer einzigen Marmorfliese hergestellt.
Effizient. Die Lampe „+O-“ wird aus nur einer einzigen Marmorfliese hergestellt.

Versteckte Seelen. Eigentlich wollte Moreno Ratti Architekt werden, um irgendwann im Studio von Renzo Piano, Italiens berühmtestem Architekten, zu landen. Das Architekturstudium absolvierte Ratti auch tatsächlich, gestrandet ist er aber nicht bei Piano, sondern in einem Büro in Salò, am Gardasee. Zwei Jahre hielt er es dort aus, dann zog es ihn zurück nach Hause, in die Toskana: „In Italien bedeutet Architektur in erster Linie Bauindustrie und nicht Baukunst.“ Er komme aber aus einer Region, in der man an jeder Ecke auf ein Kunstwerk stößt: Allein die Fassade vom Dom in Carrara mit der wunderschönen Marmorrosette ist atemberaubend.

Schon als Kind liebte Ratti das Material Marmor. „Damals spielten wir damit“, erzählt der heute 34-Jährige. Statt aus Holz bauten er und seine Freunde eine Hütte aus aussortierten Marmorfliesen. Heute schafft Ratti daraus Designobjekte. „Die aussortierten Fliesen sind absolut in Ordnung, sie haben nur manchmal eine graue Ader, die nicht zu den anderen passt. Ich finde es schade, wenn die dann alle weggeworfen oder zu Kieselstein und Zahnpastapulver gestampft werden.“ Seine Kreativität lässt sie zu neuem Leben und neuem Glanz erwachen. Wobei viele seiner Objekte in Zusammenarbeit mit dem maestro Paolo Ulian – ebenfalls alteingesessener Carrarese – entstanden sind.

Gemeinsam entwarfen sie etwa die Kollektion 40X40, zu der die LED-Lampe „+O- più o meno“, mehr oder weniger also, gehört, die man wie ein Steckspiel zusammenbaut. Der Name „+O-“ weist darauf hin, dass durch das Verschieben der Lampe ein je nach Wunsch größerer oder kleinerer Lichtkegel entsteht: „Der Ansatzpunkt bei dieser Kollektion war aber nicht, einen bestimmten Gegenstand herzustellen, sondern die Frage: Wie kann man eine Fliese zur Gänze verwenden?“ So entstand auch die Vase „Gerla“.
„Was mich bei der Arbeit mit Marmor fasziniert, ist, dass sehr viel Handwerk darin steckt. Damit kann man keine Ikea-Produkte machen“, meint Ratti. Und so fertigt er auch Unikate an, öfter noch limitierte Editionen. Dass Marmor nicht wirklich für Industrial Design brauchbar ist, erkennt man an der Bank „Onda“ – Welle – und am Bücherregal „Comb“, die für die auf 3-D-Produkte spezialisierte Firma RobotCity hergestellt wurden.

Noch einprägsamer ist diesbezüglich die Vase „Introverso“, die aus verschiedenen Marmorschichten besteht: Die Behandlung des Materials muss für diese Feinheit eine hochmoderne und -technologische sein. Ausgehöhlt wurde der Marmorblock mit einer „Water Jet“-Maschine. Der mit Sand vermischte Wasserstrahl erreicht beim Schneiden eine chirurgische Präzision und wurde auch für die lamellenartige Textur verwendet. Der Name der Vase, „Introverso“, deutet jedoch auch auf eine versteckte Anima, auf eine Seele, hin. „Und um diese hervorzuholen, sind Hammer und Handwerk gefragt“, erklärt Ratti. Roche Bobois hat unlängst 150 „Introverso“-Vasen für seine Geschäfte in Auftrag gegeben. Ratti sitzt nur selten selbst an der Werkbank, seinen Ideen und Entwürfen verleiht er mit Konstruktionsprogrammen am Computer Form und Tiefe. Trotzdem verbringt er viel Zeit an der Seite der artigiani und holt sich bei ihnen Rat. „Kunst ist nicht gleich Design, und für mich müssen Form und Funktion im Einklang sein.“

Heimisch. Der ­Designer Moreno Ratti stammt aus Carrara und spielte schon als Kind mit Marmor.
Heimisch. Der ­Designer Moreno Ratti stammt aus Carrara und spielte schon als Kind mit Marmor.

Schneller Aufstieg. Erst drei Jahre sind vergangen, seit sich Ratti für den Designberuf entschieden hat. Keine Ewigkeit also, trotzdem gilt Ratti nicht mehr als Newcomer; er gehört eher zu den Rising Stars der italienischen Designbranche. Ausgestellt hat er nicht nur in der Triennale die Milano, sondern auch im Musée des beaux-arts in Montréal, auf der Messe Maison&Objet in Paris, bei The Art of Progress in London, und natürlich beim alljährlichen Mailänder Salone del Mobile. Besonders stolz war er aber, als ihn eines Tages ein Privatsender aus Taiwan kontaktierte und ihn um ein Interview bat: „So wichtig Möbel- und Designmessen auch sind, Internet ist für uns junge Designer noch wichtiger.“ Den Kontakt mit den Fernsehleuten verdankt er nämlich dem Posting einer seiner Gegenstände auf dem Onlineportal des Design- und Architekturmagazins „Dezeen“. „Und im Gegensatz zu den 1970er- bis 1980er-Jahren denke ich, dass heutzutage auch die Bindung an sein Umfeld ausschlaggebend sein kann. Besonders hier in Italien, wo jede Region etwas hat, das sie einzigartig macht. Hier ist es der Marmor, in Florenz der Cotto fiorentino.“
Rattis neue Kollektion, vorgestellt vor wenigen Wochen auf der Maison&Objet Paris, heißt „Collezione sospesa“. Die Vasen und Tassen aus Marmor scheinen in den Kunstharzquadern zu schweben. „Inspiriert haben mich die Still Lifes von Giorgio Morandi, gleichzeitig wollte ich aber auch ein Zeichen setzen: Wie mit jedem anderen Material sollte man auch mit Marmor nachhaltig und schonend umgehen.“

Sparsam. Die Ringe für die Vase „Gerla“ entstammen ein und derselben Marmorfliese.
Sparsam. Die Ringe für die Vase „Gerla“ entstammen ein und derselben Marmorfliese.

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