Wie krank ist unsere Jugend? Ziemlich

(c) APA (Helmut Fohringer)
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Immer mehr Kinder und Jugendliche in Österreich haben psychische Probleme, greifen zu Alkohol und Nikotin oder sind suizidgefährdet. Behandlungsplätze, die sich Eltern leisten können, sind schwer zu erhalten.

Der Patient ist die Kinder- und Jugendgesundheit in Österreich – und seine Lage ist kritisch. Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter „Lebensstilerkrankungen“ wie Hyperaktivität, Stress oder Fettleibigkeit. Mehr Jugendliche im Alter von 15 rauchen und trinken in Österreich als in anderen EU-Ländern, mehr entwickeln ein Problem mit Aggression oder leiden unter täglichem Mobbing in der Schule. Die Sterblichkeitsrate der 15- bis 19-Jährigen liegt vergleichsweise hoch.

Das System hält mit diesen fundamentalen Veränderungen nicht Schritt. Betroffene müssen oft monatelang warten, ehe sie einen Therapieplatz auf Krankenkassenkosten bekommen. Für die Vertreter der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit lässt dies nur einen Schluss zu: „Alarmierend und unverständlich“, nannte Präsident Klaus Vavrik die Situation bei der Präsentation des ersten Expertenberichts am Donnerstag. Die Liga ist eine Plattform für alle, denen die Gesundheit von Österreichs Kindern und Jugendlichen ein Anliegen ist: Berufsvertretungen wie Psychologen und Ergotherapeuten, Kinderärzte und Selbsthilfegruppen.

Jeder dritte 15-Jährige raucht

Die Liga stößt mit ihrem ersten Expertenbericht, der in Zukunft einmal im Jahr vorgelegt werden soll, in eine offene Wunde: Bereits die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, stellte Österreich ein dramatisch schlechtes Zeugnis bezüglich der Gesundheit seiner Jugendlichen aus. Fast jeder dritte 15-jährige Österreicher raucht – mehr als in jedem anderen OECD-Staat –, jeder fünfte trinkt regelmäßig Alkohol, die Selbsttötungsrate liegt mit 9,5 pro 100.000 in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen im negativen Spitzenfeld. Dazu kommen 100.000 Kinder, die laut Klaus Vavrik „in manifester Armut“ leben.

Für Wilhelm Kaulfersch, Vorstand der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde am LKH Klagenfurt und Vizepräsident der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde sind diese Zahlen „keine Überraschung“: „Die Jugendgesundheit ist überhaupt ein weißer Fleck“, meinte er. „Wir brauchten dringend eine verpflichtende Untersuchung mit 13 oder 14 Jahren. Da beginnen die Probleme mit Alkohol, Drogen oder Sex.“ Überraschend findet Kaulfersch hingegen, dass Österreich relativ viel Geld in sein Gesundheitssystem pumpt, dieses aber offenbar nicht immer dort ankommt, wo es benötigt wird. „Kinder und Jugendliche stellen einen Anteil von 19Prozent an der Bevölkerung, die Gesundheitsausgaben für sie betragen aber nur sieben Prozent“, meinte auch Vavrik.

Das zeigt sich an allen Ecken und Enden: So gibt es zwar 7000Rehabilitationsplätze, aber keinen einzigen, der auf Kinder und Jugendliche spezialisiert wäre. Ähnlich schwierig ist die Situation bei den Arzneimitteln – trotz einer EU-Initiative. „Da werden noch immer Erwachsenenmedikamente verabreicht, bei denen dann die Dosis heruntergerechnet wird“, sagte Kaulfersch.

„Was wir früh einsparen, bezahlen wir später teuer“, warnte Vavrik. Besonders problematisch sei, dass Kinder und Jugendliche heute unter anderen Krankheiten litten als vor einigen Jahrzehnten. Die Infektionskrankheiten gehen zurück, die „Belastungen der Kinderseele“ (Eva Mückstein, Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie) nehmen hingegen zu. Sie schätzt, dass 15 bis 20 Prozent der österreichischen Kinder psychische Störungen aufweisen, die sie im Erleben und Erfahren einschränken. Vavrik glaubt, dass zehn bis zwölf Prozent der unter 15-Jährigen an Hyperaktivität leiden.

Diesen Problemen wäre nur mit Therapien beizukommen, die sich die Eltern auch leisten können, meint die Liga. Doch davon kann in Österreich keine Rede sein. Auf eine psychotherapeutische Behandlung, die von der Kasse finanziert wird, wartet man bis zu ein Jahr; auf eine Ergotherapie, die Kinder vor allem im Vorschulalter beim Ausgleich von Entwicklungsdefiziten helfen soll, bis zu zwei Jahre. Oder man zahlt selbst. „Wir haben schon längst eine Zweiklassenmedizin“, kritisierte Irene Promussas, Elternaktivistin und Mutter eines behinderten und eines gesunden Kindes.

Minister Stöger zufrieden

Gesundheitsminister Alois Stöger wies die harsche Kritik der Experten noch am selben Tag zurück. Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen sei „insgesamt gut“, sagte er der Apa am Rande einer Pressekonferenz. Im medizinischen Sektor gebe es aber Verbesserungspotenzial.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.01.2010)

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