Kein Aufschub ab morgen

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Diese Zeilen schreib ich am letzten Arbeitstag vor meinem Urlaub. Ich habe heute schon sehr viel geschrieben.

Würde ich jeden Tag so viel schreiben, hätte mir mein Arbeitgeber längst die Vielschreiber-Nadel in Gold verliehen. Der Grund ist simpel: Heute muss alles fertig werden, was ich als nicht ganz dringlich schon seit Tagen immer weiter aufschiebe. Psychologen nennen das Prokrastination. Ein tolles Wort für eine blöde Angewohnheit. Beliebt ist auch der Begriff Studentensyndrom, weil angehende Akademiker üblicherweise erst dann zu ihren Büchern greifen, wenn sie die akute Prüfungspanik packt. Ich fände freilich den Ausdruck Korrespondentenkrankheit noch passender.

Sicher: Allen Journalisten ist gemein, dass ihnen nur unter dem Damoklesschwert des Redaktionsschlusses etwas halbwegs Brauchbares einfällt. Aber im Großraumbüro funktioniert die kollektive Kontrolle: Auch wenn man nichts zum morgigen Druckwerk beisteuert, zwingt das Gewusel um einen herum, für die fernere Zukunft vorauszuarbeiten. In der Schreibstube eines Berliner Korrespondenten wuselt gar nichts. Nur das Elixier eines tagesaktuellen Auftrags setzt seine Arbeitskraft in vollen Gang. Sonst läuft sein Motor leer und er erliegt alsbald multiplen Verlockungen: soziale Netzwerke, ein voller Kühlschrank, die aufregende Stadt, das herrliche Sommerwetter, ein Wegbier im Mauerpark. So prokrastiniert er seine mittelfristigen Großprojekte, bis ihm gnadenlos die Stunde schlägt. Kindisch wie ein Fahrschüler, der seine Hausaufgaben erst im Zug macht.

Mein einziger Trost: Ich bin damit auf der Höhe meiner Zeit. Die Prokrastination ist zweifellos einer der ganz großen Trends unserer Epoche. Junge Menschen zögern endlos ihre Berufswahl hinaus. Frauen bekommen immer später Kinder. Wähler entscheiden erst zwei Schritte von der Wahlurne entfernt, wo sie ihr Kreuz machen. Und den Klimawandel kriegen wir, wenn überhaupt, erst in allerallerletzter Minute in den Griff. Ich jedenfalls habe jetzt ernsthaft vor, mir dieses irrationale Aufschiebeverhalten radikal abzugewöhnen. Schon morgen fang ich damit an.

E-Mails an: karl.gaulhofer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2014)

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