Wenn Fliesen fließen

(c) Clemens Fabry
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Das scharfe ß ist nicht ausgestorben- im Gegenteil, man findet es sogar dort, wo es nicht hingehört.

In der Schweiz ist sowieso alles anders. Aber die Schweiz ist halt nicht überall. Und so gibt es hierzulande nun einmal das scharfe ß. Ein Buchstabe, auf den man stolz sein kann, wenn man das unbedingt möchte, immerhin ist es der einzige Buchstabe des deutschen Alphabets, der ausschließlich in der deutschen Sprache (nur eben nicht in der Schweiz und in Liechtenstein) vorkommt. Doch vor lauter Stolz wird das ß allzu oft ausgepackt, wenn es eigentlich weiter im Setzkasten (kennt man den Begriff heute noch?) ruhen sollte. So können gelegentlich wirklich Tränen fließen, wenn Kacheln aus Keramik als „Fließen“ angeschrieben stehen. Das Taschentuch, mit dem man sich danach die Tränen abwischt, lässt man am besten gleich draußen – es könnte ja jemand nießen. Was ungünstig ist, denn auch hier ist das ß fehl am Platz. Auch, wenn es scharf klingt, wird das unwillkürliche und explosionsartige Ausstoßen von Luft durch die Nase mit nur einem s geschrieben. Es ist zum Schießen (und das stimmt jetzt auch so).

Und nein, für einen Lapsus wie diesen (nein, auch hier kein ß, wobei man diesen Fehler wirklich selten sieht) wird man nicht gleich ins Verlies geworfen, das übrigens auch ab und zu ganz verlassen mit einem scharfen ß am Ende abgelegt wird. Wobei umgekehrt viele glauben, dass mit der neuen deutschen Rechtschreibung (die mittlerweile auch schon fast 20 Jahre auf dem Buckel hat) das ß komplett abgeschafft wurde. Aber nein, Schweizer Zustände herrschen hier noch lang nicht. Und so wird weiter der stimmlose s-Laut nach einem betont langen Vokal (Buße und Maße statt Busse und Masse) scharf geschrieben. So auch, wenn ein Diphthong, ein als lang geltender Doppelvokal, draußen (nicht draussen) vor der Tür steht. Folgt allerdings im Wortstamm ein Konsonant, kommt nur ein einfaches s – trößtet (hihi, falsch) Sie das jetzt ein bisschen?

Warum die Schweizer sich diesen Spass entgehen lassen, das weiss ich allerdings leider nicht.

E-Mails an:erich.kocina@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2015)

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