150 Jahre unvollendet: Der Ring, über den keiner spricht

(C) Freitag
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Viel wird in diesen Tagen ringgestraßt.

Wie denn nicht, 150 Jahre Wiener Ringstraße, das wäre auch in anderen Zeiten ein Grund allseitigen Jubilierens gewesen, nicht nur in jenen, da sich die notorische Jahrestagszelebriererei längst von den runden zu den eher ziemlich unrunden Jahrestagen vorgearbeitet hat. 150 Jahre ist es also her, dass ihre kaiserlichen Majestäten geruhten, vor dem Äußeren Burgtor haltzumachen und ihrem Wohlwollen Ausdruck zu verleihen, dass dieser „besonders wichtige Abschnitt im Werke der Stadterweiterung“ vollendet sei. Was er übrigens an jenem 1.Mai 1865 mitnichten war.

Über all den Lobpreisungen auf eine der „schönsten Prunkstraßen der Welt“ (© www.wien.gv.at) samt unvermeidlichem Etcetera geht (wieder einmal) unter, dass diese Ringstraße eine halbwegs gleichaltrige, deutlich bescheidenere Schwester hat, ohne die sie nicht wäre, was sie ist: jenen so gut wie parallel geführten Straßenzug, der Älteren als Lastenstraße oder – nach den dort vormals geführten Straßenbahnlinien – als Zweierlinie bekannt ist. Der Form nach nicht viel mehr und nicht viel weniger Ring als die Ringstraße selbst, ward ihr von jeher die undankbare Aufgabe zuteil, dem protzig herausgeputzten Boulevard-Geschwisterchen die Dreckarbeit, will sagen: den Schwerverkehr, abzunehmen. Niemand hat sie je eröffnet, nicht einmal für eine einende Benennung hat es gereicht, und dazu passt, dass Landesgerichtsstraße, Museumstraße, Getreidemarkt und wie sie alle heißen vor allem den Verkehrsnachrichten, kaum je historisch enflammierten Stadtlaudatoren erwähnenswert sind.

Kein Zufall auch, dass ausgerechnet in dieser Zone wie nirgend sonst im Innerstädtischen unangemessene Immobilienbegehrlichkeiten (WEV/Lothringerstraße!) oder auch das durchaus angemessene Bedürfnis nach Adaptation (Karlsplatz!) beständig das Gefühl von Unbeständigkeit verbreiten. Zweierlinie: die fortwährend Unvollendete. Gestern, heute und mutmaßlich noch in weiteren 150 Jahren.

E-Mails an: wolfgang.freitag@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2015)

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