Die Vögel

Begonnen hat es mit dem toten Sperling vor der Haustür.

Man kennt das: ein scharfes Peng am Fenster, ein erschrockenes Aufblicken (hat da jemand mit Steinen geworfen?), beim Austreten vors Haus die traurige Gewissheit: wieder einmal war eine Glasscheibe zu sauber gewesen für einen gefiederten Freund.

Das war allerdings nicht der letzte rätselhafte Vogeltod in unserem Washingtoner Stadtteil Mount Pleasant. Im Hinterhof, ein verblichener Star. Auf dem Trottoir vor dem Lebensmittelgeschäft, eine tote Taube (die platte Ratte, in den Asphalt der Zufahrtsstraße zum National Zoo gebügelt, von dem uns morgens und nachmittags oft die Löwen und Tiger zubrüllen, wollen wir als statistisch irrelevant verbuchen). Das zerschmetterte Sterlingsküken vom Nest auf unserem Hausdach, das unser Nachbar vergangene Woche aus seinem Vorgarten auflas. Und dann dieser wütende Kampf zweier Hausspatzen neulich. Haben Sie schon einmal Spatzen raufen gesehen? Das sieht nur bei flüchtigem Hinschauen wie ein frivoles Necken und Zupfen aus. Wer länger zusieht, dem eröffnet sich ein Millionen Jahre alter Kampf um Revier und Fortpflanzungschancen, der bis zu den Donnerechsen der längst vergangenen Ära der Dinosaurier führt.

Liegt das nur am fortschreitenden Alter, dass mir Wohl und Wehe der Vögel plötzlich so deutlich auffallen? Oder ist das normal, eine der harten Seiten der Natur, dass im Frühling, wenn es um die besten Brutplätze und die dicksten Würmer geht, besonders viele Vögel sterben? Wo genistet wird, da fallen Küken: damit muss man sich als Tierfreund abfinden, ein bisschen verstörend ist es dennoch. Man hat sich antropomorphe Sentimentalitäten zu verbitten, aber beim morgendlichen Kaffee im winzigen Vorgarten unseres Hauses frage ich mich dieser Tage schon, was der fröhliche Star, der da Tag für Tag von unserem Dachgiebel singt und pfeift und zwitschert und gluckst, wohl empfindet, angesichts des Todes eines seiner Küken. Wahrscheinlich nichts. Und wenn doch?

E-Mails an:oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2015)

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