Wir und die Menschen von Bahnsteig eins

Wolfgang Freitag
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Die Menschen von Bahnsteig eins. Jeder von uns hat sie gesehen.

Auf TV-Schirmen. In Zeitungen. Auf Internetportalen. Wie sie auf Bahnsteig eins des Wiener Westbahnhofs stehen und warten. Dazwischen da und dort ein Polizist, ein Helfer oder eine Helferin. Wochen ist es her. Doch noch immer stehen sie da. Immer wieder neu. Und wir würden die von heute von jenen gestern und vorgestern nicht unterscheiden können. Nicht, weil es dieselben wären, sie scheinen einander nur seltsam gleich zu sein, als hätte sie das Elend egalisiert. Und die Hoffnung darauf, endlich irgendwo anzukommen.

100, 150 mögen es etwa vergangenen Samstag gewesen sein. Das gibt bei Weitem keine Schlagzeile mehr her und keine brisante Reportage vom Krisenherd. Die Karawane der medialen Aufmerksamkeit ist längst weitergezogen. Dorthin, wo Zäune errichtet und Zäune durchbrochen werden. Dorthin, wo die Masse noch sichtbar eine ist.

Die Not der Welt hat sich entschlossen, nicht mehr länger in weiter Ferne auf unser Erbarmen zu warten. Die Not der Welt steht vor unserer Haustür und fordert Einlass. Nicht einzeln und hie und da, wie vor Monaten, Jahren, nein, zu Tausenden Tag für Tag. Und wir, wir wissen so gar nicht, wie wir ihr begegnen sollen. Sollen wir ihr, die wir doch sonst gegenüber Dritten so schnell mit unseren christlich-abendländischen Werten zur Hand sind, barbarisch die Tür vor der Nase zuschlagen? Dürfen wir, nur um sie uns möglichst rasch wieder vom Leib zu schaffen, ausgerechnet mit jenen paktieren, denen wir doch eben erst unter Hinweis auf unsere Werte die Gemeinschaft verweigert haben? Oder müssen wir, wollen wir diese unsere Werte nicht selbst verraten, die Not der Welt einlassen, selbst um den Preis, dass sie vielleicht genau das gefährdet, woran sie so sehnlich teilhaben will?

Die Menschen von Bahnsteig eins stellen keine Fragen. Sie sind in unserem Alltag angekommen. Ein Bild der Stadt wie viele. Und doch eines, das wie kein anderes diesen Alltag und uns selbst schon jetzt verändert hat.

E-Mails an:wolfgang.freitag@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.10.2015)

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