1600 Pennsylvania Avenue

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Das Weiße Haus ist kleiner, als man es sich vorstellt.

Der Besucher betritt seinen Westflügel durch den selben schlichten Seiteneingang, den auch der Vizepräsident, der Außenminister und die anderen Mitglieder des Kabinetts auf dem Weg zu ihren täglichen Arbeitstreffen wählen. Drinnen ist es still, denn die Mitarbeiter des Präsidenten dürfen nur nach Büroschluss, frühestens ab 20 Uhr, Gäste durch den West Wing führen. Durch niedrige Gänge und an der Tür zum Situation Room, wo der Präsident mit seinen Sicherheitsberatern und Militärs die wirklich brenzligen Situationen der Welt erörtert, sowie an der Mess Hall vorbei, wo hochrangige Besucher sich zu diskreten Arbeitsessen mit Kabinettsmitarbeitern treffen können, gelangt man, fast plötzlich, an die Tür zum Oval Office. Unter den Argusaugen der Secret-Service-Agenten beugt man sich über die Kordel, um einen besseren Blick zu gewinnen. Ein surrealer Moment: Man kennt diesen Raum, aus Filmen und von Fotografien, er wirkt vertraut und unecht zugleich. Barack Obama hat sein Arbeitszimmer mit Gemälden von Edward Hopper und Norman Rockwell und Büsten von Martin Luther King jr. und Abraham Lincoln geschmückt. Sein Schreibtisch ist dasselbe, aus dem Holz des britischen Schlachtschiffs H.M.S. Resolute geschnitzte Möbel, unter dem vor einem halben Jahrhundert der kleine John F. Kennedy jr. spielte; ein Bild, ins Weltgedächtnis eingebrannt.

Mit welchen Kunstwerken wird der nächste Präsident am 20. Jänner 2017 ins Oval Office einziehen – oder die erste Präsidentin? Heute in einer Woche wissen wir das Ergebnis der Vorwahl in Iowa, aber noch lange nicht, wer Obama folgen wird. Möchte man überhaupt Präsident der Vereinigten Staaten sein? Nein, sagt meine Frau. All diese Verantwortung für den Weltfrieden, das hält doch kein Mensch aus. Ich stimme ihr zu, aber aus einem egoistischen Grund: Der Verlust der Privatsphäre würde mich erdrücken. Unerkannt durch die Straßen zu flanieren, seine Gedanken ziellos Gassi führend: Diesen Luxus kann sich der Hausherr an der Adresse 1600 Pennsylvania Avenue NW nie wieder leisten.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2016)

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