Wäre ich ein Schuster, ich würde nach Wien wandern

Kaiserwasser
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Vergangene Woche bin ich eines Abends mit dem Fahrrad durch Kaisermühlen Richtung Praterstern gerollt.

Während die Sportanlage der Polizei, der Eissalon Bortolotti, Kaiserwasser und Harry-Seidler-Tower an mir vorbeizogen (bzw. ich an ihnen), ereilte mich die Erkenntnis, dass es auf der ganzen Welt nur wenige Orte gibt, an denen es sich am unteren Ende der Einkommensskala so gut leben lässt wie in Wien. Es ist zugegebenermaßen ein etwas banaler Geistesblitz, doch da ich seit dreieinhalb Jahren in Brüssel wohne und Wien nur aus der Perspektive eines Heimaturlaubers erlebe, ist mein Blick auf die Stadt ungeübter als sonst.

In Brüssel käme ich als Mensch, der auf materielle Unterstützung durch den Rest der Gesellschaft angewiesen ist, schlechter über die Runden. Erstens, weil man in Brüssel nicht so mobil sein kann wie in Wien, denn das städtische Verkehrsnetz ist dort weniger dicht geknüpft, und die Stadt selbst für Radfahrer nicht so gut geeignet. Zweitens, weil die Hauptstadt Belgiens schlechter verwaltet wird – im Vergleich zur gut geölten Riesenmaschine Wien ist Brüssel ein klappriger, ächzender Apparat. Drittens wegen der Natur: In Wien kann man im Winter durch den verschneiten Wienerwald stapfen und im Sommer an der Donauriviera sonnenbaden. Und viertens, weil hier das Wetter besser ist als dort. In Brüssel ist der Regen im Winter kälter und im Sommer wärmer.

Aus meiner Kindheit kann ich mich an ein Lied meiner Tante erinnern, das mir damals wahnsinnig gut gefallen hat. Es handelte von vagabundierenden Schustern. Sie wanderten durch den grünen Wald, hatten wenig Geld, aber viel Zeit, trallali, trallala. Nun ist es nicht so, dass sich mein Leben in die exakt umgekehrte Richtung entwickelt hätte – ich habe zwar wenig Zeit, an dem vielen Geld muss ich noch arbeiten. Aber ginge es mir wie den Schustern aus dem Kinderlied, würde ich nicht ziellos durch den Wald marschieren, sondern mich schnurstracks in die Bundeshauptstadt begeben. Wien ist ein kleines, aufregendes Universum.

E-Mails an:michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2016)

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