Ob das Eis hält, musst du selbst entscheiden

Winter Hessen Winterlandschaft
Winter Hessen Winterlandschaftimago/Marcel Lorenz
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Sag mir, was ich darf, aber nicht, was ich nicht darf.

Zugefrorene Flächen haben einen Reiz, dem man sich nicht entziehen kann. Über einen See zu gehen, in die Weite zu schauen, wo das Hellblau der Eisfläche mit dem Hellblau des Himmels verschmilzt, ist wie tiefes Durchatmen für die Seele. Der freie Blick ist wichtig, zumindest ab und zu. Auch der Perspektivenwechsel: Die Welt sieht gleich ganz anders aus, wenn nicht nur der Kopf aus dem Wasser ragt.

In die Freude über die Natureisflächen, wie es im Amtlichen richtig heißt, mischt sich die Warnung, dass das Betreten des Eises auf eigene Gefahr erfolgt. Man muss also selbst abwägen, ob man sich aufs Eis traut oder nicht. Das kritisieren manche, sie wünschen sich eine offizielle Freigabe. Ein paradoxes Phänomen, das typisch ist für eine Zeit, in der einerseits auf größtmögliche Eigenständigkeit gepocht und andererseits Verantwortung gern abgegeben wird.

Manche Gebote werden sehr ungefragt befolgt: Mindesthaltbarkeitsdaten etwa. Viele Produkte halten länger, als sie mindestens sollten, aber selbst daran riechen, gegebenenfalls kosten? Das ist zu viel verlangt; das Vertrauen in das offizielle Aufgedruckte ist größer. Montagfrüh, wenn gestresste Supermarktmitarbeiter die Regale neu befüllen, sieht man dann mitunter Mitmenschen, die abgelaufene Produkte wie Trophäen an der Kassa präsentieren. Fehler finden, Fehler einklagen, Vergehen ahnden: Aber gern selbst bestimmen, welche Fehler Vergehen sind und bei welchen man die Augen zudrücken kann.

Lawinenabsperrungen werden etwa immer noch eher als Empfehlung denn als Verbot gesehen; das eigene Können und Wissen grob überschätzt. Es ist offenbar reizvoller, ein Verbot zu übergehen, als eine fehlende Erlaubnis auszuhalten. „Du darfst nicht“ reizt den Widerstand, „Du darfst“ sorgt für Zufriedenheit und „Du entscheidest selbst“ für Verunsicherung.

E-Mails an: friederike.leibl-buerger@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.01.2017)

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