Das Baumfleisch im „Goldenen Buch“

(c) Michaela Bruckberger
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Als das Christkind als Fantasiefigur geoutet wurde, erschienen viele Dinge in einem anderen Licht.

Es gibt erste Sätze, die einfach wehtun, so abgelutscht sind sie. „Weihnachten steht vor der Tür“ als Einleitung einer Geschichte etwa. Abgesehen davon, dass diese Phrase an sich schon schmerzt wie „Last Christmas“, kann man Erzählungen, die so eingeleitet werden, bedenkenlos zur Seite legen. Daher steht der Satz auch nicht am Beginn dieser Kolumne, die sich um rührselige Erinnerungen an Kindertage dreht. Rührselig wie die Erinnerung an jenen Moment, als das Christkind als Fantasiefigur geoutet wurde. Und auch andere Konstanten elterlicher Pädagogik plötzlich in einem neuen Licht erschienen.

Das „Goldene Buch“ zum Beispiel, das irgendwo im Bücherschrank aufbewahrt wurde – und in dem meine Großmutter nachschlagen konnte, wenn ich etwas Schlimmes getan hatte. Groß war die Ehrfurcht gewesen, denn aus einem unerfindlichen Grund konnte sie mir tatsächlich manche Schandtat nachweisen. Dass das Buch in Wirklichkeit ein Psychotrick war, dessen Androhung schon reichte, um den kleinen Erich geständig zu machen, fand ich erst später heraus. Auch so mancher Trick, um das aufgeweckte Kind ins Bett zu bringen, war ähnlich perfid – „Du musst nicht schlafen. Nur kurz die Augen ausrasten!“ Ja, klar. Erst am nächsten Morgen war klar, dass ich gelegt worden war.

Hätte ich jemals eine vegetarische Phase gehabt, hätten mich meine Eltern mit derartigen Kniffen wohl auch dazu gebracht, Fleisch zu essen. Einfach das Steak am Teller als „Baumfleisch“ bezeichnen, das aus einer alten Buche herausgeschnitten wird. Ich hätte das wohl geschluckt, im doppelten Sinn.

Mittlerweile habe ich dazugelernt, hoffe ich. Und lasse mir nicht mehr jeden Unsinn einreden. Selbst, wenn Weihnachten vor der Tür steht.


erich.kocina@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2009)

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