Mein Dienstag

Gewohnheiten

(c) APA/BARBARA GINDL
  • Drucken

Wenn man in die Emigration geht, nimmt man seine Angewohnheiten mit, es fällt einem schwer, sich von ihnen zu trennen.

Das Gewohnte, das sind Ansichten, die die Ausrichtung des Lebens betreffen, die Tagesroutine, die Essensvorlieben, der sprachliche Automatismus. In der Emigration ist das mitgebrachte Gewohnte oft heilsam, oft schwierig, oft kontrovers im Alltag, aber oft auch einfach nur skurril. Der Papa zum Beispiel hat Schilling und Groschen jahrelang Lira und Kuruş genannt, erst der Euro hat hier Abhilfe verschafft. Ich habe also mein Taschengeld in Lira ausbezahlt bekommen, obwohl es sich um Schilling handelte, sprich: mentale Geldwäsche.

„Die Macht der Gewohnheit“, sagte mir eine Freundin, als sie mir von ihren Sprachstudenten erzählte, die aus Städten wie Kairo oder Teheran kamen, „sie schreiben mir ihre Adressen punktgenau“. Also: U4 Ausstieg Pilgramgasse, beim Blumenladen rechts hinein, ca. zehn Minuten geradeaus, das weiße Haus rechts, Schönbrunner Straße 50. „Ich sage ihnen, dass die Straße reicht, aber dann fragen sie mich: Wie soll denn der Briefträger das Haus finden?“ Das Gewohnte, das sind ja Handlungen, die einem derart selbstverständlich vorkommen, dass man nicht weiter darüber nachdenkt. In einer Kurzgeschichte von zwei ehemaligen türkischen Gastarbeitern in Deutschland lese ich: Jeden Tag passierten die beiden in den 1960er-Jahren eine Kirche. Sie waren noch nie in einem christlichen Gotteshaus und haben sich lange Zeit nicht getraut, hineinzugehen. Eines Tages meinten sie aber, na gut, lass uns einmal hinschauen, „die Neugierde war stärker“, wie einer von ihnen erzählt. Vor dem Eingang zogen sie die Schuhe aus, legten sie draußen ab und gingen hinein, eben so, wie man es aus hygienischen Gründen, aus Respektgründen in einer Moschee macht, so, wie man es gewohnt war. „Man hat auf unsere Socken geschaut, und wir auf ihre Schuhe“, erzählen die Männer. Sie zeigten sich verwundert über den Betonboden, wussten kurz nicht weiter, schließlich drehten sie eine Runde und verließen die Kirche, ohne sie richtig betrachtet zu haben.

E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2017)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.