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Die verschwindenden Archive: Ein Lob des Papiers

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Die düstere Erfahrung mit modernem Wissensmanagement.

Dort, wo wir Normalsterblichen diskursiv unterwegs sind, wenn wir uns über technologische Entwicklungen austauschen, drückt sich der Enthusiasmus für das Digitale unter anderem in der begeisterten Nutzung elektronischer Archive aus. Wozu noch schwere Jahrgangsbände aus Universitätsbibliotheken stemmen, wenn jedweder wissenschaftliche oder journalistische Artikel doch nur einen Tastendruck entfernt ist?

Glenn Tiffert hat diesem optimistischen Umgang mit dem, was man modernes Wissensmanagement nennt, eine düstere Erfahrung entgegenzusetzen. Der amerikanische Sinologe beschäftigt sich mit jener Phase Ende der 1950er-Jahre, in der auf Maos Appell, „100 Blumen blühen zu lassen“, sprich einen offenen gesellschaftlichen Diskurs über Chinas Zukunft zu führen, die „Anti-rechts-Bewegung“ gefolgt ist, also die Verfolgung all jener von der Linie der KP abweichenden Stimmen, die man zuvor noch zur offenen Kritik ermutigt hat. Zu diesem Zweck studierte Tiffert zwei juristische Fachjournale. Dabei stellte er, als er seine papierenen Ausgaben mit den digitalisierten verglich, Erschütterndes fest: In den drei Schlüsseljahren fehlten in den digitalen Archiven elf Prozent der ursprünglich gedruckten Seiten. In manchen Ausgaben sei Monat für Monat jeweils die Titelgeschichte spurlos verschwunden. Da ging es um Fragen wie die Unabhängigkeit der Richter, Rechtsstaatlichkeit oder die Unschuldsvermutung im Strafrecht: allesamt heiße Eisen auch heute im neomaostisch verhärteten Regime. „In den vergangenen Jahren vor allem macht die Partei starken Druck gegen diese Themen und verengt die Parameter der Diskussion“, sagte Tiffert in einer Ausgabe des exzellenten „Little Red Podcast“ vom Zentrum für Zeitgenössische China-Studien der Universität Melbourne. Ein alarmierendes Beispiel der Schnittstellen zwischen digitalen Möglichkeiten und totalitärem Willen – und Mahnung für so manche Hochschule oder Redaktion, die ihr „verstaubtes“ Papierarchiv zu entsorgen gedenkt.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2018)

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