Wo Kinsey nie war: Piemont

Iss was Gscheit‘s! Dieses Motto wird im piemont hingebungsvoll gelebt – nicht nur während der winterspiele. nirgendwo fallen multiple kulinarische Orgasmen so leicht wie im magischen Quadrat der Slow-food-Bewegung rund um Cuneo, Alba, Asti und Turin.

Im Piemont hätte sogar Sexualforscher Alfred Kinsey Urlaub machen können. Denn hier sind nur die Trauben frigid, die „allobrogica frigidis“, die dunkle Urahnin der göttlichen Nebbiolotraube. Und weiter gar nichts. Selbst in Pezzolo Valle Uzzone, einer
400-Seelengemeinde im geografischen Niemandsland, fällt die Verehrung der oralen Libido stärker ins Gewicht als die Anbetung des Heiligen Colombano. Wer dort nicht willens ist, den Abgründen der Magenschleimhaut ein Opfer zu bringen, stößt in denKultstätten von Eros und Lukullus auf wenig Verständnis.

„Ma se non ha fame?!“ Der kolossale Wirt des „Brutto anatroccolo“ versteht die Welt nicht mehr, die mächtige Gestalt ein Fleisch gewordenes Fragezeichen. Der Abend ist erst am Anfang, Giovannis Weisheit bereits am Ende. Da sitzt ein Mensch in seiner Osteria, der keinen Hunger hat. Lethargisch und lustlos stochert er in den Antipasti herum, würdigt Wildscheinwürste, Albenserfleisch und Paprikacreme mit keinem Blick. „Mai visto una cosa cos­.“ Hat man so was schon gesehen?

Weder seine Erfahrung als Veterinär noch seine Gabe als Sommelier helfen dem Wirt weiter. Das Geschehen nimmt bedrohliche Züge an, das Vergehen lautet auf Hochverrat an der Fleischeslust. Mit vereinten Kräften nehmen Carla, resolute Gattin und begnadete Köchin, flankiert von Schwiegermutter, Küchenpersonal und dem trinkfreudigen Monsignore sich des Problemfalles an. Das haben sie alle noch nicht erlebt, dass ein Gast schon während des Vorspiels schlappmacht.

Himmel für den Gaumen. Doch diverse Gläser vom  prickelnden Freisa, dem Wein, der nicht schlafen lässt und die Liebe ständig wachhält, lösen die Zunge des anämischen Tischgenossen. Seine Frau habe ihn verlassen, bekennt er mit verschleiertem Blick.
Was schlimm ist, sehr schlimm, vor allem für einen Südländer, und vom progressiven Wahnsinn bis zum Sprung in die reißenden Fluten des Tanaro alles rechtfertigen würde, alles – außer Appetitlosigkeit. Selbst die Verstümmelungsrituale der Kopfgeldjäger oder der Sommerschlussverkauf in Novosibirsk könnten einem Piemontesen kaum unverständlicher anmuten als kastrierte Hungergefühle.

„Gastronomie ist eine von Sinnlichkeit getränkte Kunst“, sagen die Piemontesen, und wer die „Völlerei nicht ehrt, ist der Wollust nicht wert.“

Ein Motto, auf das ich gern mein Glas erhebe. Und dabei sehe ich, wie der unbekannte Gast seinem Liebeskummer endlich mit Wachteln in Trüffelsauce zu Leibe rückt. Ein weiser Entschluss, der alle glücklich macht. Mit Hingabe stürze ich mich erneut auf mein Fritto misto alla piemontese, dem Himmel für den Gaumen, der Hölle für den Cholesterinspiegel. Doch nach einem satten Jahrzehnt in dieser Region pantagruelischer Bankettkreationen bin ich dem gastronomischen Zehnkampf, der Königsdisziplin zwischen Langhe, Roero und Monferrato, durchaus gewachsen. Ein kleines Stück vom Castelmagno noch und als Kür die Doppeldosis Panna cotta, der Inbegriff kulinarischer Erotik. Nur das Obst lehne ich ab. Das kann ich auch zu Hause essen. Und während schlussendlich der Digestivo in Form des aphrodisischen Barolo Chinato die Runde macht, hat selbst der bekehrte Hungerkünstler ein Lächeln auf den Lippen.

Doch nicht nur die große kulinarische Tour de Force macht figurbewussten Menschen das Leben schwer. Schon an den kleinen Versuchungen verspüren Reisende bald die Wirkungen und Nebenwirkungen der raffinierten kalorischen Aphrodisiaka. Und über die informieren weder Arzt noch Apotheker, sondern allein die Badezimmerwaage.

„ˆ solo per dare un‘oc­chiata“ – „nur einen Blick draufwerfen“, auf die tausendundein schmackhaften Sachen – mit diesen Worten nimmt das ewig gleiche Verhängnis seinen Lauf. Der Realitätsfluchtindex solcher Vorsätze tendiert erfahrungsgemäß gegen null. Aber diesmal werde ich wirklich nichts kaufen – non comprer³ niente! Nicht schon wieder Mostarda, Bagna Caoda und vier Sorten Trüffelsalami. Ich habe mich figurmäßig schon hinreichend der kurvenreichen Landschaft angenähert. Nicht einmal Ziegenkäse und Rindszunge in grüner Sauce! Ich bleibe hart. Bis vor die Käsetheke. Da werde ich schwach. Drei Paglierini in Butterpapier lassen jeden Widerstand dahinschmelzen (was Eros Ramazotti im Adamskostüm nicht gelungen wäre). Nirgendwo sonst als hier, in der Heimat der Kreuzritter des guten Geschmacks, geht die mysteriöse Umwandlung von Euro in Fettgewebe schneller vonstatten.

Alla salute! Cin cin. Wir heben die ersten Gläser, benebelt vom tanninhältigen Ozon der verschleierten Hügelketten. Dunstschwaden, die Taufpaten der Nebbiolotraube, verwehren beharrlich den Panoramablick auf die naturgewellten Schlemm(er)böden der Langhe. Worauf wir anstoßen? Auf das Leben, die Liebe, den Wein, vielleicht auch auf Stendhal, Proust und Nietzsche, die diesen Tropfen einst ebenso verfielen. Und während wir langsam in Weinseligkeit versinken, kommt so ziemlich alles auf den Tisch, was uns Menschen am Herzen liegt: Zur Feinkost aus dem Untergrund – Trüffeln, Spargel und rubinroten Raritäten aus der Cantina – werden deftige Themen aus der „Oberwelt“ gereicht, deren Tiefgang dem verkosteten Wein entspricht. Das letzte Heimspiel von Juventus etwa harmoniert perfekt mit einem belebenden Roero Arneis, der Ärger über die steigenden Spritpreise wird mit dem fröhlichen Dolcetto hinuntergespült und die geradlinige Barbera gleicht den Mangel an Reife in der Politik wieder aus.

Doch erst als die sinnlichen Albeisa-Flaschen geöffnet werden und ein vollmundig-hintergründiger Barbaresco Gläser und Wangen dunkelrot färbt, kommen die Frauen zur Sprache. Cesare Pavese verglich die sanften Kuppen der Weinhügel mit den Brüsten einer erwartungsvollen Frau. Bruno, mein Lieblingswinzer aus dem romantischen Neive, einem Juwel mittelalterlicher Baukunst und Sitz der sündigen Bottega dei quattro vini, sieht das ähnlich: „Der Wein gleicht wirklich einer Frau“, meint er, „und wenn du ihr deine ganze Liebe schenkst, so führt sie dich ins Paradies.“ Eine erdverbundene Philosophie, auf die die Klasse der hier reifenden Spitzenweine ebenso zurückzuführen ist wie die Masse an Scheidungen im Weinbaumilieu. Mein siebter Himmel jedenfalls beginnt mit dem Abstieg in den alten Weinkeller. In diesem unterirdischen Paradies, wo meine Leber schon bedenklich ins Fegefeuer ragt, kommen wir endlich zur Sache. Die Korbflaschen werden angekarrt, der Zapfhahn aufgedreht, il pieno, per favore – einmal volltanken bitte! Der vinophile Italiener gibt sich nicht mit Kleinkram ab. Er stillt seinen Durst en gros, mit der traditionellen Damigiana, einem 54 l-Behälter. Abgefüllt wird dann zu Hause, sobald Mondstand, Außentemperatur, helfende Hände und Luftfeuchtigkeit es erlauben. Ein Unterfangen, das viel Fingerspitzengefühl und nächtliche Sondierungsreisen ins Altglasdepot verlangt. Neumond etwa setzt explosive Kräfte frei, deren Spuren dann an der Kellerdecke kleben. Zu hohe Luftfeuchtigkeit lässt den Korken schimmeln, und der fahrlässige Verzicht auf önologisches Öl, das der Konservierung des Weins und nicht der des Trinkers dient, verschafft dem Essigbestand reichlich Zuwachs.

Ecco fatto! Geschafft! Mit 216 Liter vom rotem Gold der Cascina Vano, deftiger Wegzehr – Grissini, Speck, Grappa di Moscato – sowie einer erntefrischen Tuber Magnatum von Nonno Beppe trete ich den Heimweg durch die pittoreske Landschaft an. Zwar sind die Straßen hier kurvenreicher als Ornella Muti und verschlungener als ein Teller Spaghetti, aber die Aussicht lohnt jede Mühe. Berauschend schön ist der atemberaubende Blick auf Barolo, Barbaresco, Monforte oder Cherasco. Hügel an Hügel, Burg an Burg, Weingarten an Weingarten erscheinen diese Pilgerstätten für Genussapostel eng aneinandergereiht.

Torino, la magica. Turin, die Hauptstadt der schwarzen Magie, bezaubert selbst Uneingeweihte noch durch so manches Wunder. Allen voran das Rätsel der kalorischen Implosion. Diese Stadt, so Calvin Klein, habe ihn mit ihrer Küche erobert, die Turiner Schokolade gehöre zu den schönsten Dingen des Lebens. Kandierte Worte für einen Ort, an dem Alexandre Dumas, Manhattan Transfer und Brigid Bardot der unwiderstehlich süßen Versuchung des Al Bicerin erlagen, der mehr Pralinenläden als Kirchen hat und wo Cioccolattaio Gobino die ganze Welt mit seinen Giandujotti verführt.
In dieser barocken Stadt also leben Menschen, die einfach nicht dick werden. Rank und schlank wie die Grissini wandeln sie die Arkaden entlang, und wer von üppigen Formen spricht, meint eher die Botanik. Bekannt geworden als Industriemetropole, mit Juventus und einem Leichentuch, hat der Slow-Food-Tourismus heute längst den Sieg über Fahrzeugindustrie und Katechismus davongetragen.

Die Suche nach geistiger Nahrung ist einer körperlichen Befindlichkeit mit lukullischer Schwerpunktsetzung gewichen. Einziger Wermutstropfen – ein Getränk übrigens, dessen Siegeszug um die Welt gleichfalls hier begann – auf diesem genüsslichen Pflaster: die Öffnungszeiten. Die Ristoranti zeigen sich da ungleich weniger elastisch als die Gürtelbänder der ansässigen Gourmets. 12.00–14.30, 19.30 bis 23.00 – e basta! Die kleine Mahlzeit zwischendurch ist ebenso verpönt wie großes Lamentieren über unzeitige Hungergefühle. Und weil die Torinesi ein stures Volk sind, wird an versperrten Türen erst gar nicht gerüttelt.
Als Trost haben sie das Ritual des Aperitifs, einer Trinkmahlzeit beträchtlichen Ausmaßes, erfunden. Auf der Piazza San Carlo etwa, im berühmten Caf© Torino, verschwindet die monumentale Theke aus Marmor und Gold bereits am späten Nachmittag unter unüberschaubaren Bergen von sogenannten „Stuzzichini“. Ein trockener Weißer oder Campari dazu, und das Warten aufs Abendmahl erhält einen magenfüllenden Sinn.

Derart gestärkt, kann man sich nun am Nationalsport der Torinesi beteiligen, am phallischen Tritt ins Glück: Unmittelbar vor dem Eingang des Caf©s prangt ein goldener Stier, das Wappentier der Stadt, auf dem Boden. Dem man gezielten Schrittes auf die Hoden zu treten hat. Und alle Wünsche werden wahr. Wenn man wirklich Glück hat, nimmt man dabei sogar ein paar Gramm ab.

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