Güle, güle – auf Wiedersehen, Stadt aller Städte

Istanbul
Istanbul (c) www.BilderBox.com (www.BilderBox.com)
  • Drucken

Nabel der Welt: Hipp und historisch, boomend und baufällig, erzkonservativ und emanzipiert – Istanbul hält die Balance und soll zukünftig zum New York des Orients werden oder gar zum Big Apple von Europa.

Istanbul. Ausgerechnet im Mobilfunkshop schaut das moderne Istanbul ziemlich alt aus. Da stehen sich Tourist und Telekommunikationsexperte gegenüber und gestikulieren wie wild – Türkisch und Arabisch prallen auf Deutsch und Englisch, und am Ende des Fremdwort-Pingpongs eint nur noch schulterzuckendes Schweigen. Dabei liegt die Lösung auf dem Ladentisch, dutzendfach: Smartphones mit Übersetzungs-Apps.

Nur der würde jetzt vom Triumph der Technik sprechen, der nicht in das Gesicht des Türken geschaut hat, als ihm aufging, wie leicht das Verständigungsproblem zu beheben sei. Sein Schnauzbart, aus dem man locker drei Rasierpinsel fertigen könnte, spannt sich wie eine Girlande über ein breites Grinsen: So sehen Sieger aus, mein Freund. Das muss er nicht sagen, das muss nicht übersetzt werden.

An gesundem Selbstvertrauen fehlt es der Stadt nämlich nicht. Ob Simit-Verkäufer oder Schuhputzer, Messerschleifer oder Müllsammler, ob arbeitslose Flaneure auf der Galata-Brücke oder kleiner Junge, der Kühlschrankmagneten in Minarettform verkauft – sie alle zeigen selbstbewusst Haltung.

Arbeit und Gewinnstreben als einziger Lebensinhalt haben sich am Bosporus bisher nicht durchgesetzt. Keine kalkulierte Karriere, kein geschäftlicher Erfolg? Wenn auch sonst nichts funktioniert im Leben, ist immer noch Haltung angesagt. Haltung bedeutet verkörperten Geist – der sich zuletzt in den Massenprotesten und niedergeknüppelten Demos gegen die Bauvorhaben der Regierung Erdoğan im Gezi-Park manifestierte, der an den zentralen Taksim-Platz grenzt. Die Bauarbeiten wurden durch einen Gerichtsbeschluss gestoppt, derzeit kann der Park besucht werden. Die Gezi-Park-Bewegung trifft sich weiterhin, auch in anderen Parks.

Istanbul war einst „die größte Stadt des Erdkreises“, „Pforte der Glückseligkeit“, „Nabel der Welt“ und „die Stadt aller Städte“. Heute ist die Stadt Partymekka, Boomtown, Zentrum der Hightech-Industrie, Magnet für Investoren und weil islamische Tradition und freizügige Weltlichkeit immer noch nebeneinander Platz haben, wurde sie zur „Metropole von Minarett und Minirock“ gekürt. Premier Erdoğan will die Stadt nun auch zu einem zentralen Standort der UN machen.

Istanbul ist kein Name wie San Diego, Accra oder Düsseldorf. Von dieser Stadt, die einst Byzanz war, Ostrom und Konstantinopel, klebt sich jeder seine eigene Collage, mit Bildern von Bosporus-Booten und -Brücken, von arabeskengeschmückten Moscheen, von übervollen Basaren, von romantischen, verwitterten Holzhäusern und von der Hagia Sophia, die in unseren Vorstellungen mit ihrer mächtigen, wie an einer Himmelskette schwebenden Kuppel immer größer und prächtiger wurde. Groß und prächtig ist sie auch, und so übersieht man zunächst die Quick-Response-Codes, die überall in der Hagia Sophia angebracht sind. Ursprünglich wurde die quadratische Matrix aus schwarzen und weißen Punkten für die Logistik der Autoindustrie entwickelt, heute scannen Besucher der 1500 Jahre alten „Kirche der heiligen Weisheit“ den QR-Code und rufen auf ihren Smartphones Infos zur byzantinischen Baukunst ab. Wo ist hier Orient, wo Okzident, und was bitte ist noch mal der Unterschied?

Als ahnte sie diese Gedanken, joggt eine konservative Muslima im maulwurfschwarzen Çarşaf zu einem der vielen Sportgeräteparks und beginnt dort mit ihren Fitnessübungen. Verabschieden wir uns also von unseren bisherigen Bildern und ersetzen sie durch neue, zum Beispiel durch die Displayanzeigen der Deckenmonitore im Großen Bazar, die den Besuchern Navigationshilfe geben, oder durch spiralförmige Energiesparlampen der Süleymaniye-Moschee. Ihr blauweißes Licht bestrahlt Dutzende Lautsprecherboxen: Der Imam muss neuerdings im Dolby-Surround-System predigen, weil der Einsatz falscher Materialien bei der Moscheerestaurierung die alte Akustik zerstört hat.

Burger statt Börek

Auf der anderen Seite begrüßt Asien einen mit deutscher Drogerie, amerikanischem Fast-Food-Laden und Schweizer Supermarkt. In den Lokanta Kadiköys am Bosporus-Ufer gibt es kein Pide oder Börek, sondern Cola und Burger, und in den Buchhandlungen liegen Biografien von Coco Chanel, Audrey Hepburn und Che Guevara. In einem dunklen Regal döst eine dreibändige Ausgabe über Kemal Atatürk neben einem Buch mit dem Titel „Güle, güle Istanbul“ – Auf Wiedersehen, Istanbul. Der türkische Abschiedsgruß unterscheidet, wer geht und wer bleibt. „Allaha ısmarladık“ – auf Wiedersehen – oder „hoşçakal“: Lebewohl, wünscht der, der einen verlässt. „Güle, güle“ sagt der, der bleibt.

„Güle, güle Istanbul!“ Wohin wird die Stadt gehen? Die Richtung lässt sich an ihrer Skyline ablesen. Die Minarette der Moderne sind die Hochhäuser der Banken, von denen die Mächtigkeit des Kapitals ausgerufen wird. In ihren gläsernen Fassaden spiegeln sich keine 2600 Jahre Geschichte. Es sind Türme des Ehrgeizes. So sieht ein aussichtsreicher Kandidat für eine EU-Mitgliedschaft aus. Oder vielleicht doch eher Exkandidat, der locker freiwillig auf den Beitritt zum Krisenklub verzichten können?

Von solchen Dingen weiß der Bub vermutlich nicht viel, der auf dem Taksim-Platz inmitten von wackelnden, schaukelnden und blinkenden Spielzeugen hockt. Während er die Restposten der Globalisierung verkauft, arbeiten die älteren Brüder als Warenträger im Großen Basar. Jeden Morgen hieven sie sich wie ihre Großväter und Urgroßväter schwere Lasten auf den Rücken. Auch ihr Schweiß ist die Schmiere, die Istanbul durch den Tag gleiten lässt, immer an den Grenzen zum Dysfunktionalen, knapp vorbei an Ausfällen, Unfällen, Stör- und Zwischenfällen, Zusammenbrüchen und Katastrophen. Und wenn Unglück und Übel dann doch einmal geschehen? Der Islam glaubt an die Vergänglichkeit alles Irdischen, nichts Menschengemachtes darf einen Ewigkeitsanspruch erheben, es hat provisorisch und vorläufig zu sein.

Wenn eine der Hausruinen im Armenviertel Tarlabasi einstürzt, ein Lkw mit einer Ladung hunderter Toilettenschüsseln umkippt oder eine Schafherde ausbüxt und durch das Stadtzentrum spaziert, dann schauen die Alten, die den ganzen Tag auf den Stufen ihrer Hauseingänge absitzen, nur kurz auf und lassen sich und die Zeit weiter vergehen.

Eichhörnchen füttern im Park

Nicht angehalten haben das millionenfache Hupen der Taxis, das Rufen und Fluchen der Pendler, das Bohren und Hämmern auf Istanbuls Baustellen, das Klappern von Geschirr, das Brausen des Bosporus, die Sirenen der Fähren und das Schnarchen derer, die auf den umtosten Verkehrsinseln ein Schläfchen halten – ein akustischer Eintopf, der ununterbrochen durch die Stadt quillt. Für rund 14 Millionen Einwohner ist Lärm der Polster, der die Last des Lebens dämpft.

Stille aber ist der Weihrauch der besonderen Momente. Und die gibt es auf einer Fahrt über den Bosporus, beim Eichhörnchenfüttern im Yildiz-Park und am frühen Abend auf der Galata-Brücke mit Blick über das Goldene Horn. Dann flüstern die Menschen so leise, als gäben sie einen der geheimen Namen Allahs preis. Ein Schwalbenschwarm lässt seine „Wid-wid-wid-wid“-Rufe hören. Das klingt, als ratterten Nähmaschinen am Himmel und schneiderten ein neues Gewand für die Stadt, die vielleicht zum Big Apple am Bosporus wird, aber sicher kein Klon kapitalistischer Megastädte. Güle, güle, Istanbul!

Fliegen, schlafen, shoppen – Istanbul-Infos

Anreisen
Linienmaschinen und die meisten Charterflieger landen in Istanbul auf dem Atatürk Hava Limani. Mittlerweile nutzen Billiganbieter verstärkt den Sabiha-Gökçen-Airport auf der asiatischen Seite. Von beiden Flughäfen verkehren regelmäßige Shuttleservices ins Zentrum.
havatas.com

Schlafen
Dachterrassen-Ferienwohnung: Das Apartment im Kurtulus-Viertel bietet ein grandioses Istanbul-Panorama und ist auch tageweise zu mieten.
ferienhaus-ferienwohnung-tuerkei.de

Ayasofya Mansions
Soğukçeşme Sokak (Sultanahmet)
63 Zimmer und sieben Suiten in wunderschön restaurierten Holzhäusern, in einer autofreien Straße hinter der Hagia Sophia gelegen.
ayasofyakonaklari.com

Anschauen
Kunstzentrum „Schneidertempel Sanat Merkezi“
schneidertempel.com

Istanbul Modern
Museum of Modern Art
istanbulmodern.org

Wallfahrtsort Eyüp
mit dem Bus von Eminönü bis Haltestelle Eyüp Iskele

Essen & trinken
Setüstü Çay Bahçesi
Teegarten im Gülhane-Park
Tägl. 9–22 Uhr
Balkon-Restaurant & Bar
Asmalımescit Mah. Şehbender Sok. No: 5 – Tünel-Beyoğlu
balkonrestaurantbar.com

Otantik – Türkü Bar & Restaurant
Istiklal Cad. Balo Sk. No: 1 – Beyoğlu
otantikbar.com

Café Pierre Loti
Gümüşsuyu Karyağdı Sokak, Eyüp
Das Café auf dem Eyüp-Hügel mit einem sensationellen Blick über die Stadt ist auch mit der Seilbahn zu erreichen. +90/212/497 13 13

Istanbul pauschal
Dertour bietet in Istanbul mehr als 60 Hotels sowie Flüge zu tagesaktuellen Preisen. dertour.at
Ruefa hat Städtereisen ans Goldene Horn im Programm, z. B. drei Nächte und Flüge ab 399€. ruefa.at

Shoppen
Horhor Pit Pazari:
Istanbul ältester Floh- und Antiquitätenmarkt; Kirma Tulumba Sok. 13, Aksaray

Sali Pazari:
Der größte Wochenmarkt der Stadt, jeden Dienstag entlang der Mahmut Baba Sokak in Kadiköy.

Geld
1 türkische Lira (TL) = 0,37421 Euro

Istanbul-Karte
Aufladbare Chipkarte zur Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel inkl. Bosporus-Fähren. Sie kostet 6 TL Grundgebühr und kann mit beliebiger Summe aufgeladen werden. Die erste Fahrt kostet je 1,75 statt zwei TL, umsteigen einen TL.

Museumspass
Der Museumspass Istanbul kostet 72 TL und ist ab dem ersten Museumsbesuch 72 Stunden gültig. Neben freiem Eintritt in den teilnehmenden Museen (www.muze.gov.tr/museum_pass) erhalten die Passinhaber weitere Vergünstigungen in privaten Ausstellungen, Parks und Museumsshops.

Visum
Österreicher benötigen einen Reisepass und müssen bei der Einreise für 15 Euro ein Visum kaufen. bmeia.gv.at

Weitere Infos:
Die Kosten dieser Reise trug die Informationsabteilung für Kultur und Fremdenverkehr der türkischen Botschaft/Berlin. Türkei-Info Wien: Singerstraße 2/8, 1010 Wien
turkinfo.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Inselsommerfrische auf den Prinzeninseln
Reise

Prinzeninseln: Autofreie Inselsommerfrischen

Fluchtpunkt für stadtmüde Istanbuler sind neun Inseln, auf denen früher missliebige, verbannte und geblendete Thronanwärter lebten.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.