Winter in Italien: Die stillen Tage zwischen den Jahren

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Ein Fotograf hat die fluidale Magie Venedigs im Winter in traumverlorenen Bildern eingefangen – zum Jahreswechsel ein Auszug aus dem Bildband des Künstlers. In der Lagune überwintert still auch die Armenierinsel, lauter geht es in den Caffè-Legenden von Florenz zu.

Leben für ein paar stille Tage als Venezianer unter Venezianern. Wann das möglich ist? Nur im Winter, für eine kurze Zeitspanne, wenn sich die Stadt zu verschließen scheint wie eine Auster, in Wahrheit sich jedoch öffnet und nicht mehr nur ihre spektakulären Schauwerte zeigt, sondern ihre verborgenen, unter dem üblichen Massenansturm begrabenen Schönheiten, ihren dekadenten Charme. Dann wird das Stück gespielt, das alle sehen wollen und doch alle verhindern: Venedig ohne Gäste, Venedig im Winter.

Eine der raffiniertesten Vergnügungen für Kenner ist dieses Venedig des Nebels und der Pfützen, der Schirme und der leeren Gassen und Gondeln im Regen. Der Regen hier kann sprühend, nieselnd sein, aber auch rauschend, als müsste er den Vorhang vor der Stadt zuziehen. Aber er kann auch ganz sanft in ein Schweigen hineinregnen.

Nur für wenige Wochen im Jahr bleiben die Venezianer unter sich, erobern sie sich ihre Stadt leise zurück. Bis der Winter sein Finale im farbensprühenden Feuerwerk des „carnevale“ feiert.

Für Melancholiker

Dies ist ein Venedig, das Touristen kaum kennen. Geisterhaft still ist die Stadt. Einsam hallen die eigenen Schritte in den dunklen Gassen. Nur dann und wann huscht eine schwarze Gestalt aus einer Haustür, verliert sich im Dunkel der Nacht. Spätestens um zehn Uhr abends wirkt alles wie ausgestorben. Es gibt Vormittage, an denen die Stufen der vielen Brücken glitschig sind, die Temperaturen nur wenige Grade über dem Gefrierpunkt, da und dort auf entlegenen Wasserflächen sogar eine hauchdünne Eisschicht zu sehen ist. Auch dann ist Venedig Bühne, Dekoration, Inszenierung.

Wir finden ein anderes, ganz stilles, womöglich gespenstisch-geisterhaftes Venedig, wie es vielleicht zur Zeit Goethes, wie es sicher vor der Erfindung des Tourismus schon immer war. Ein Venedig ohne Besucherströme – seltsam ist diese Erfahrung. Sicher nicht für jedermann. Vielleicht für Einzelgänger eher als für Liebespaare. Für Aficionados privater Extratouren.

Am Morgen nach der Ankunft: Man öffnet die Fenster, klappt die sperrigen Holzläden auf. Sonne liegt über der Stadt, ein Geruch von geräuchertem Holz in der Luft. Venedig ist nun ein Fluchtpunkt geworden, nichts riecht nach Weihnachten. Es duftet nach Kaffee, nach Rotwein, überfrorenem Seetang und trockenem Holz, das verglimmt. Keine großartige Weihnachtsdekoration, nur ein paar blaue und weiße Lichtergirlanden, am Ponte di Rialto, an der Piazza und an anderen zentralen Stellen. Schön und still ist Weihnachten in Venedig.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag ist es mit dem leeren, stillen Venedig auch schon wieder vorbei. Jetzt kommen erste Touristen, Weihnachtsflüchtlinge, Jahreswechselfeiernde. Die Straßen füllen sich, die Hotels auch. Nachmittags um fünf sind die Tische im Caffè Florian wieder alle besetzt. Es ist einfach schön, die Tage zwischen den Jahren hier zu verbringen. Mittags um eins sitzt man an den Fondamenta delle Zattere draußen im Sonnenlicht. Für ein paar Stunden ist es so warm, dass man keinen Mantel braucht.

Eine Stadt in Flammen

Von acht bis elf Uhr zieht sich am letzten Tag des Jahres in den Restaurants die „cenone“, das Silvesterdinner, hin, mit vielen Gängen und Einlagen. Dann bricht man auf in Richtung Piazza. Einer aus der Runde klemmt sich die halb volle Champagner- oder Proseccoflasche unter den Arm.

Und jetzt kann man erleben, was die Piazza di San Marco den Venezianern seit jeher bedeutet. Sie ist das kollektive Wohnzimmer, die Herzkammer, der prächtige Wohnsalon für alle Bürger. Ganz Venedig strömt hier etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht zusammen, für einige Augenblicke versöhnt selbst mit den Gästen, die hier einmal nicht in der Überzahl zu sein scheinen. Tausende von Menschen drängeln sich vor der Basilika, begrüßen einander, tauschen gute Wünsche für das neue Jahr aus. Der alte Uhrturm zeigt die letzten Minuten des Jahres an.

Es knallt irgendwo, Glocken beginnen zu läuten, erste Feuerwerkskörper zischen strahlend in den Himmel, und da springt auch die römische Ziffer an der Torre dell'Orologio plötzlich auf XII. Mitternacht. Großer Silvesterjubel bricht aus, die Stadt steht in Flammen. Dann werden voller Übermut und Schwung die geleerten Flaschen auf den Steinboden der Piazza geworfen, dass es nur so klirrt und splittert. Das Zischen und Donnern der Raketen wird von diesem hellen Geschepper übertönt. In kürzester Zeit ist der Markusplatz grün, flaschengrün, watet man in Scherben. Es knirscht und knackt auf dem Boden, darüber wogt Freude und Ausgelassenheit.

Fest mit tausend Gesichtern

Die Neujahrsfreude ist groß, aber von kurzer Dauer. Schon um zwei Uhr leert sich der Festsaal der Piazza. Und wenn man am Neujahrsmorgen gegen elf wieder zum Markusplatz kommt, liegt er sauber und stolz da, als sei die nächtliche Orgie nur ein Traum gewesen.

Venedigs zweites Gesicht – das war er einmal: der berühmte, einst famose, farbensprühende Karneval. Heute ist er ein Fest für Hunderttausende – nur nicht für Venezianer. Die ertragen das Massenhappening mit mühsam unterdrücktem Grimm und starrem Blick auf die Kasse. Und jedes Jahr wieder werden Stimmen laut, die das Ende des chaotischen Maskenspiels fordern. Wenn die Massenparty vorbei ist, dämmern die Tagestouristen der Heimreise entgegen, der Markusplatz wartet auf die Männer der Müllabfuhr. Am Aschermittwoch ähnelt Venedigs Bahnhofshalle einem Obdachlosenasyl, und vor San Marco sieht es aus wie in einem Fußballstadion nach einem Länderspiel.

Dann sind Spuk, Spiele und Spektakel vorbei. In warme Mäntel gehüllt huschen Paare und Passanten über die Brücken und Plätze, und zum ersten Mal glaubt man tatsächlich, dass diese Stadt bewohnt ist. Ihnen scheint das spröde, winterliche Venedig nichts auszumachen, im Gegenteil. Sie sehen es in all seiner frostigen Pracht, seiner kühlen Unmittelbarkeit, seinem eisigen Griff.

Der Wind pfeift um jede Ecke, und man ist versucht, sich hineinzuducken in einen Portikus oder Sotoportego, als könnte man dort irgendeinen Schutz finden. Was natürlich nur eine Illusion ist.

Wenn kalte Schwaden die Kanäle hochkriechen wie Bühnennebel, wenn die Lagune zu den Füßen der Piazetta hochschäumt, wenn die Kanäle Wellen schlagen und die Flut, acqua alta, in die Stadt hineinkriecht – dann ist Venedig wie eine riesige Lunge, die den Wind einzieht, den Wind, der vom Meer kommt und das Hochwasser begünstigt. Der Canal Grande bäumt sich auf. Warum nicht auch dieses Venedig lieben, das der Wind belebt? Er macht es wieder maritim, er lüftet es durch, macht es widerstandsfähig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2013)

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